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Freitag, den 17. Oktober 2003

Offener Brief - Bürgerkomitee Leipzig fordert Ehrenkodex für Olympia-Bewerbung

Kategorie: Pressemitteilung
Von: Bürgerkomitee Leipzig e.V.

Sehr geehrter Herr Tiefensee,

die derzeitige Diskussion um die Seriosität der Leipziger Olympia-Bewerbung verfolgen wir als Verein, der sich der Stadt in besonderer Weise verbunden fühlt, mit Sorge. Wir fürchten, dass das Renommee unserer Stadt und der Bewerbung nachhaltig Schaden nehmen könnte. Deshalb fordern wir den Olympia-Aufsichtsrat auf, während seiner morgigen Sitzung einen Ehrenkodex für alle jene zu beschließen, die die Leipziger Bewerbung national und international vertreten oder für sie tätig

werden. Dieser sollte eindeutig regeln, welche Kriterien für die Eignung einer Person als Botschafter des olympischen Gedankens sprechen - und welche dagegen. Die Mitarbeit bei der Staatssicherheit muss dabei ebenso zu den Ausschlussgründen zählen wie beispielsweise die Beteiligung am DDR-Staatsdoping.

Leipzig ist aus vielerlei Gründen prädestiniert, die Olympischen Spiele 2012 auszurichten: Wegen des Muts, der Visionen und des Fortschrittswillens seiner Bewohner; wegen der Leidenschaft und Begeisterung Tausender für den Sport; und wegen der Aufbruchsstimmung, die 14 Jahre nach der Friedlichen Revolution noch immer vieles möglich macht, was anderswo undenkbar scheint. Die Menschen hier haben 1989 eine wahrhaft historische Leistung vollbracht: Von Leipzig aus fegte die

Friedliche Revolution das SED-Regime innerhalb weniger Wochen hinweg. Auf die Erfahrung diesergewaltlosen Selbstbefreiung gründet sich die Gewissheit, dass unmögliches möglich wird, wenn Menschen couragiert für ein gemeinsames Ziel einstehen.

Auf eben jenen Gedanken basierte Ihre Präsentation Leipzigs im nationalen Wettbewerb um den Austragungsort für die Olympischen Spiele auf. Die Menschen in Leipzig haben seit der Wiedervereinigung innerhalb von nur einem Jahrzehnt Leistungen vollbracht, auf die sie stolz sein und aufbauen können.

Im 14. Jahr nach der Friedlichen Revolution ist deshalb ein offener Umgang mit der Vergangenheit nur folgerichtig und sollte - vor allem, wenn es um Projekte internationaler Tragweite geht - auch die Regel sein. Für die Olympia GmbH und andere Gremien bedeutet das, dass die Bevölkerung ein Recht hat, die Biographien hochkarätiger Mitarbeiter zumindest zu kennen, um daraufhin selbst zu entscheiden,

ob sie beispielsweise eine frühere Tätigkeit beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) für vertretbar hält oder nicht. Im übrigen gibt es keinen Grund, Teile eines Lebenslaufs zu verschweigen, wenn sie tatsächlich so harmlos waren, wie die Stadt etwa im Fall von Dirk Thärichen argumentierte.

Ostbiographien anzuerkennen bedeutet eben auch, sie vollständig zur Kenntnis zu nehmen. Es ist 14 Jahre nach dem Ende der Diktatur jedem zuzubilligen, dass er sich persönlich weiter entwickelt und dazu gelernt hat. Dieser Prozess muss aber bei Personen in so wichtigen Positionen glaubhaft nachvollziehbar sein.

Das Bürgerkomitee begrüßt es, dass der bisherige Geschäftsführer der Olympia GmbH aus seinem Amt ausgeschieden ist. Unserer Ansicht nach muss jemand, der im September 1989 noch freiwillig seine Selbstverpflichtung bei der Staatssicherheit einlöste, sich heute kritisch nach den Beweggründen dafür fragen lassen. Denn zu diesem Zeitpunkt gingen in Leipzig bereits Montag für Montag Tausende auf die Straße, um ihre Ablehnung des SED-Systems öffentlich zu bekunden. Er selbst hat bis zum Schluss geleugnet, für den DDR-Geheimdienst tätig gewesen zu sein und auch keine Gelegenheit ergriffen, darüber vorher öffentlich ins Gespräch zu kommen.

Bei der Frage, ob einstige Angehörige des MfS heute die Leipziger Bewerbung vertreten können, geht es nicht um persönliche Schuld, sondern um Eignung: Kann ein Mensch glaubhaft als Botschafter des olympischen Gedankens von Fairness und freiheitlichem Miteinander auftreten, wenn er in der Vergangenheit einem System diente, in dem freiheitliche Grundrechte mit Füßen getreten wurden? Wir meinen, dass eine solche Person für exponierte Posten nicht geeignet ist, auch wenn sie in Funktionen mit weniger sensiblem Hintergrund - selbst im öffentlichen Dienst - durchaus tragbar wäre.

Es kann der Leipziger Olympia-Bewerbung und dem internationalen Renommee der Stadt nur gut tun, wenn wir alle uns offen und frei von Befindlichkeiten mit dem aufgeworfenen Problem auseinandersetzen. Dass nur auf diesem Weg weiterer Schaden abzuwenden ist, zeigen die Erfahrungen des Deutschen Turn- und Sportfests vom vergangenen Jahr. Damals hatte der Geschäftsführer des Organisationskomitees, Volker Mattausch, kurz vor Eröffnung der Veranstaltung

wegen Berichten über seine inoffizielle Tätigkeit für die Verwaltung Aufklärung des Ministeriums für Nationale Verteidigung zurücktreten müssen. Ihn und andere in diesem Zusammenhang ebenfalls belastete "Sportfreunde" hindert das indess nicht, bereits wieder im Umfeld der Olympia-Bewerbung aufzutreten. So wird gerade Mattausch auf einer Presseerklärung des Vereins "Wirtschaft für Leipzig 2012", in der der Rücktritt des Gründungsmitglieds Jochen Lohse wegen IM-Vorwürfen bekannt gegeben wird, als Ansprechpartner genannt. Die Olympia GmbH sollte - um glaubwürdig zu bleiben - hier schnell und konsequent handeln.

Seien Sie versichert, sehr geehrter Herr Tiefensee, dass das Bürgerkomitee die Bemühungen, Olympia 2012 nach Leipzig zu holen, nach allen seinen Möglichkeiten unterstützt und bis heute jeden Teilerfolg auf dem Weg dahin mit ehrlicher Freunde verfolgt hat. Weil wir glauben, dass Leipzig ein würdiger Gastgeber für die Spiele wäre, bitten wir Sie nachdrücklich, in Ihrer Funktion als Mitglied des Aufsichtsrats und als Bürgermeister der Stadt das derzeit diskutierte Problem offen und konsequent anzugehen. Wir stehen mit unseren Erfahrungen der vergangenen 14 Jahre jederzeit gern als Gesprächspartner zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Konrad Taut