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Sonntag, den 30. Juni 2002

Bürgerkomitee widerspricht Altkanzler Schmidt energisch

Kategorie: Pressemitteilung
Von: Bürgerkomitee Leipzig e.V.

SPD-Altbundeskanzler Helmut Schmidts Äußerungen in der jüngsten Ausgabe der Leipziger Volkszeitung zeugen von wenig Sachverstand. Der offene Umgang mit den Akten der zweiten deutschen Diktatur war unumgänglich, gerade auch um die Fehler aus der Nachkriegszeit nicht zu wiederholen. Die Aktenöffnung war der Preis der Friedlichen Revolution von 1989. Die Aufarbeitung muß weitergehen.

Schmidts Äußerungen sind unsachlich

In einem Interview mit der Leipziger Volkszeitung von gestern äußerte SPD-Altbundeskanzler Helmut Schmidt, daß er 1990 die Stasi-Akten verbrannt hätte. Er sagte: "Mein Instinkt wäre seinerzeit gewesen, alles ungelesen zu verbrennen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte man alles aus der Stasi-Hinterlassenschaft in den Ausguß tun sollen".

Solche populistischen Äußerungen zeugen von einem völlig unhistorischem Denken. Schmidt macht sich damit gemein mit den bekannten Schlußstrichapologeten wie Peter-Michael Diestel oder Friedrich Schorlemmer.

Der Umgang mit der Hinterlassenschaft der Staatssicherheit in den vergangenen über zwölf Jahren hat Deutschland internationale Anerkennung eingebracht. Erstmals wurde nach dem Ende einer Diktatur über die Strukturen aber auch über die Verantwortlichkeiten Einzelner in einem sachlichem Klima diskutiert.

Staatssicherheit war Minderheit in der DDR-Bevölkerung

Fraglich ist nach den Äußerungen Schmidts, wieso er sich mit dem einen Prozent der DDR-Bevölkerung gemein macht, das sich der Diktatur andiente, statt mit den 99 Prozent, die eine Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit verweigerten. Denn genau dieses Verhältnis ist eine der wichtigsten Erkenntnisse die wir bisher aus den offenen Akten ziehen konnten.

Das Bürgerkomitee Leipzig distanziert sich deutlich von den Vorstellungen Helmut Schmidts und unterstützt stattdessen die Parteikollegen des SPD-Altkanzlers, die eine Novellierung des StUG noch in dieser Legislaturperiode gemeinsam mit Bündnis90/Die Grünen und der FDP beschließen wollen, um so eine weitere Aufarbeitung der DDR-Diktatur durch Historiker und Journalisten zu ermöglichen.

Offene Akten waren der Preis für die Friedliche Revolution

Die offenen Akten und die Aufarbeitung der SED-Diktatur in der DDR waren eine wichtige Bedingung dafür, dass die Friedliche Revolution 1989 auch tatsächlich friedlich blieb. Die Menschen wollten nach 1989 nicht die viel zitierte "Hexenjagd" auf die Täter eröffnen, aber sie wollten die Verantwortlichen benannt wissen. Sie wollten auch wissen, wie die 40jährige Diktatur hat funktionieren können. Nicht umsonst wurde deshalb der Deutsche Bundestag im Einigungsvertrag dazu verpflichtet, ein entsprechendes Aufarbeitungsgesetz zu verabschieden. Es sei auch daran erinnert, daß es im September 1990 die erste frei gewählte Volkskammer der DDR, die Bürgerbewegung und Tausende Demonstranten waren, die die Aufnahme dieser Verpflichtung in den Einigungsvertrag erstritten.

Ohne die offenen Akten und den gesetzlich geregelten Zugang zu diesen Unterlagen wären es bis heute ausschließlich die ehemaligen Täter und Mitläufer, die mit ihrer Sicht den gesellschaftlichen Diskurs beherrschen würden. Gerade jüngst ist eine zweibändige Darstellung der Arbeit der Staatssicherheit aus der Feder ehemaliger Stasi-Generäle mit einem Vorwort von Peter-Michael Diestel erschienen. Glücklicherweise konnten vorher zehn Jahre lang seriöse Historiker in den offenen Akten forschen und ihre Ergebnisse publizieren, so daß die Geschichtsklitterungen der Unbelehrbaren nicht die einzigen öffentlich zugänglichen Quellen zur DDR-Diktatur sind. Denn das wäre der Fall, wenn wir 1990 dem Instinkt von Helmut Schmidt gefolgt wären.

Es gibt keine Alternative zur Aufarbeitung

Helmut Schmidt äußert diese Überlegungen ohne auch nur ein Blatt seiner Stasi-Akte gesehen zu haben. Als Grund führt er an, daß nach 1945 die Akten der Gestapo beispielsweise wesentlich weniger akribisch aufgearbeitet und ausgewertet worden sein. Doch genau dies wurde immer wieder - völlig zu recht - massiv kritisiert und war eine wesentlicher Grund für die gesellschaftlichen Verwerfungen des Jahres 1968 in der alten Bundesrepublik. Nach der zweiten Diktatur sollte dieser Fehler nicht wiederholt werden.

Unumstritten ist, dass für menschliches Fehlverhalten in einer Diktatur mildernde Umstände gelten, doch darf es nicht zum Normalfall erklärt werden. Gerade das entwickelt sich momentan jedoch zum Trend - einem Trend, der jegliches Moralverständnis unterläuft. Denn die Lehre, die nachfolgende Generationen aus der leichtfertigen Absolution für Täter ziehen können, lautet: Zivilcourage in Diktaturen lohnt sich nicht; Willfährigkeit dagegen ist von persönlichem Nutzen und wird auch im Nachhinein nicht geahndet.

Der SPD-Altbundeskanzler findet es "zum Kotzen", wenn über das Funktionieren der Diktatur öffentlich geredet wird und auch die Verstrickungen Einzelner thematisiert werden. Selbstverständlich verursacht ein solcher Prozess Schmerzen, aber er ist unverzichtbar, wenn wir in ganz Deutschland eine stabile Demokratie aufbauen wollen.