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Donnerstag, den 07. November 2019

Vor 30 Jahren: Leipziger gedenken am Abend des Mauerfalls mit Schweigemarsch an die Pogromnacht – Vortrag und Zeitzeugengespräch am 9.11.2019 um 19.00 Uhr

Kategorie: Pressemitteilung

Die Erinnerung an den Holocaust und die Auseinandersetzung mit rechtsextremen Tendenzen in der DDR war immer auch fester Bestandteil der DDR-Bürgerbewegung, oft gegen den Widerstand der SED-Diktatur. Am 9. November 1989 beteiligten sich rund zehntausend Menschen in Leipzig auf einem vom Neuen Forum initiierten Schweigemarsch zum Gedenken an den 51. Jahrestag der Reichspogromnacht. Am gleichen Abend fiel in Berlin die Mauer, von dem die Teilnehmer erst bei ihrer Rückkehr erfuhren.

Am Samstag, den 9. November 2019, berichten um 19.00 Uhr im ehemaligen Stasi-Kinosaal der Gedenkstätte Zeitzeugen sowohl über den Schweigegedenkmarsch als auch ihre Wahrnehmung des Mauerfalls. Anwesend sind der ehemalige Vorsitzende der Jüdisch-christlichen Arbeitsgemeinschaft, Superintendent i.R. Friedrich Magirius, und der heutige Vorsitzende Dr. Timotheus Arndt. LVZ-Fotograf Volkmar Heinz dokumentierte den Schweigemarsch und wird Bilder zeigen. Der Fotojournalist Daniel Biskup präsentiert Fotos, die er nachts an der Berliner Mauer von feiernden Bürgern gemacht hat. Der Eintritt ist frei.

Aus Anlass des 30. Jahrestages der Friedlichen Revolution lädt das Bürgerkomitee Leipzig e.V. zu einer Gesprächsreihe mit Zeitzeugen ein. Im Mittelpunkt der Veranstaltungsreihe „Heute vor 30 Jahren – Leipzig auf dem Weg zur Friedlichen Revolution“ stehen herausragende Ereignisse des politischen Protestes in Leipzig, die zur Friedlichen Revolution, zum Sturz der SED-Diktatur und zu einem demokratischen Neuanfang führten. Ebenso wie der Beginn der Weimarer Republik 1919 und die Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 in der Bundesrepublik ist die Friedliche Revolution von 1989 ein zentrales Datum der Demokratiegeschichte in Deutschland, dem wir uns wieder stärker bewusst werden sollten. Die mit ihr wiedererrungenen Werte – Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – sind heute für ein gemeinsames Zusammenleben in Europa grundlegend und unveräußerlich.

Der 9. November 1918 – 1938 – 1989

Gerade bei der anstehenden Veranstaltung am 9. November 2019 sollte auch anderen zentralen Ereignissen an jenem Tag gedacht werden. Der 9. November ist ein besonderes Datum: Im Jahr 1918 kam es mit der Novemberrevolution in der Endphase des Ersten Weltkrieges – dem bis dahin schlimmsten Krieg – zu einem flächendeckenden Protest, der schließlich zum Sturz der Monarchie im Deutschen Reich und zugleich zur Gründung der Weimarer Republik führte. Am 9. November 1918 verkündete Philipp Scheidemann, Vorstandsmitglied der SPD, in Berlin das Ende des Kaiserreichs und rief die erste Republik aus, die sich eine hochmoderne, demokratische Verfassung gab und erste allgemeine, freie und geheime Wahlen auf deutschem Boden organisierte. Die Weimarer Republik endete jedoch in der Katastrophe der NS-Diktatur. Trauriges Symbol für die Zeit des Nationalsozialismus wurde u.a. der 9. November 1938 mit der Reichspogromnacht. Nationalsozialistische Schlägertruppen setzten jüdische Geschäfte und Gotteshäuser in Brand, misshandelten, verhafteten und töteten Juden. Der sich hier bahnbrechende Antisemitismus und Rassismus war der Ausgangspunkt für den größten Völkermord und den Holocaust. Im Jahr 1989 fiel an genau diesem Tag die Berliner Mauer und machte den Weg frei für die deutsche Wiedervereinigung in einem friedlich vereinten Europa. Die Erinnerungen an die Pogromnacht von 1938 war fest bei der DDR-Opposition verankert und spielte auch während der Friedlichen Revolution im Jahr 1989 eine Rolle.

Rückblick auf die bisherige Veranstaltungsreihe seit Januar

Die Friedliche Revolution 1989 begann in Leipzig nicht erst im Herbst. Bereits seit Januar 1989 kam es zu Aktionen des politischen Protests und des demokratischen Aufbruchs in Leipzig. So fand am 15. Januar 1989 die erste ungenehmigte Demonstration für demokratische Grundrechte statt, an der sich etwa 500 Bürger beteiligten und von denen 53 Personen festgenommen worden sind. Bei der Protestaktion am 13. März 1989 skandierten mehr als 500 DDR-Bürger, vorwiegend Ausreisewillige, nach einem Friedensgebet in der Nikolaikirche: „Wir wollen raus!“. Wegen der zur Messe anwesenden westlichen Journalisten griffen die Sicherheitskräfte nicht ein. Die Situation wurde durch die gefälschte Kommunalwahl am 7. Mai 1989 verschärft. Oppositionsgruppen wiesen hier durch eine organisierte Kontrolle der öffentlichen Stimmenauszählung erstmals den regelmäßigen Wahrbetrug der SED nach. Es folgte am 4. Juni 1989 eine Protestaktion gegen die Umweltzerstörung in der DDR mit einem Pleißepilgerweg und am 10. Juni 1989 kam es zu einem verbotenen Straßenmusikfestival „Für die Freiheit der Kunst“. Höhepunkt war der Kirchentag mit dem Statt-Kirchentag am 9. Juli 1989, an dem etwa 2.500 Personen aus der ganzen DDR teilnahmen, zumeist Oppositionelle, um sich über die aktuelle Lage sowie zukünftige Konzepte und Aktionen auszutauschen.

Nach der Sommerpause kam es ab dem 4. September 1989 wieder regelmäßig im Anschluss an das Friedensgebet zu Demonstrationen und anderen Aktionen für die Genehmigung der ständigen Ausreise in die Bundesrepublik. Bei der Demonstration am 4. September 1989 war erstmals auch der Ruf „Wir bleiben hier!“ zu hören. Bei der Demonstration am 25. September 1989 beteiligten sich bereits über 5.000 Menschen. Erstmals liefen sie auch einen Teil über den Ring. Bereits am 2. Oktober 1989 fand das Friedensgebet erstmals neben der Nikolaikirche auch in der Reformierten Kirche statt. Im Anschluss demonstrierten rund 20.000 Menschen friedlich auf dem Ring. Dabei kam es erstmals zum Einsatz von Spezialeinheiten in Sonderausrüstung mit Helm, Schild und Schlagstock sowie mit Hunden. Es war ein in der Stadt Leipzig bis dahin nie gesehener Anblick. Fortan nahm die Polizeigewalt stetig zu, so auch bei den Protesten am 7. Oktober 1989, als die DDR ihren 40. und letzten Jahrestag feierte. Am 9. Oktober 1989 kam es zur entscheidenden Montagsdemonstration. Trotz großer Ängste demonstrierten weit über 70.000 Bürger mit den Losungen „Keine Gewalt“ und „Wir sind das Volk“ gegen das Regime. Angesichts dieser Massen zogen sich bereitstehende Sicherheitskräfte zurück. Der friedliche Verlauf des Abends wurde als Sieg über das Regime empfunden. Von nun an ergriffen Proteste das ganze Land.

9. November 1989 – Schweigemarsch zum Gedenken an die Pogromnacht in Leipzig am Abend des Mauerfalls

Nachdem am 9. Oktober 1989 in Leipzig ein erster Sieg über das SED-Regime errungen wurde, indem die Staatsmacht die Demonstration der weit mehr als 70.000 Bürger nicht gewaltsam auflöste und zurückwich, beteiligten sich immer mehr Menschen an den öffentlichen Protesten. Am 6. November 2019 fand die gewaltigste Montagsdemonstration mit bis zu 500.000 Teilnehmern statt.

Zwei Tage später, am 8. November 1989, hatte die SED das Neue Forum als Oppositionsgruppe offiziell zulassen müssen. Damit war eine weitere Kernforderung der Demonstranten erfüllt.

Für den 9. November 1989 hatte das Neue Form als erste genehmigte nichtstaatliche Demonstration in Leipzig einen Schweigemarsch zum Gedenken an den 51. Jahrestag der Reichspogromnacht am 9. November 1938 organisiert. Bereits seit 1983 hatten Leipziger Bürgerrechtsgruppen unabhängige Gedenkveranstaltungen durchgeführt. Die Erinnerung an den Holocaust und die Auseinandersetzung mit rechtsextremen Tendenzen war immer auch fester Bestandteil der DDR-Bürgerbewegung, oft gegen den Widerstand der SED-Diktatur.

Bei den bereits seit 1982 stattfindenden Friedensgebeten wurde am 9. November 1983 das Gedenken an die Pogromnacht bereits in den Mittelpunkt gerückt. Spontan gingen Teilnehmer danach mit Kerzen zum Gedenkstein für die zerstörte jüdische Synagoge in der Gottschedstraße, um der Opfer zu gedenken. Es war ein nicht genehmigter Marsch. Die Volkspolizei schaute deshalb nicht lange zu, sondern löste die Veranstaltung rasch auf, nahm Personalien auf und schlug die Kerzen aus. Bereits an den Tagen zuvor war es während der Friedensdekade der Evangelischen Kirche zu Kerzendemonstrationen auf dem Leipziger Markt gekommen.

1988 entwickelte die SED anlässlich des 50. Jahrestages der Reichspogromnacht ein staatliches Gedenken und sicherte die in Berlin zentral geplanten Veranstaltungen minutiös ab, um alle unliebsamen und ungeplanten Aktionen zu verhindern. Ihre Maßnahmen dazu nannten sie intern makabererweise Aktion „Kristall“. In Leipzig wurde das Gedenken an die Pogromnacht erneut bei den Friedensgebeten zum Thema. Am Ende hieß es: „Wenn wir das Gedenken an die Pogromnacht für uns annehmen, müssen wir unsere Verantwortung als Menschen wahrnehmen; die Verantwortung für die Unverletzlichkeit der Menschenwürde; die Verantwortung für die Freiheit der Menschen in unserem Land; die Verantwortung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.“ Im Anschluss fanden sich wieder ca. 100 Menschen spontan zu einem ungenehmigten Kerzenweg zum Gedenkstein zusammen. Angesichts der offiziellen Gedenkveranstaltungen traute sich die Volkspolizei nicht einzugreifen und sperrte sogar die Straße ab. Erst danach beschwerten sich die staatlichen Stellen beim Landesbischof. Der Gedenkstein der jüdischen Opfer sei „in einen unwürdigen Zustand versetzt (hinterlassen von Müll und Kerzenstummel)“ worden.

Ein Jahr später, die Friedliche Revolution war in vollem Gange, liefen am 9. November 1989 die Teilnehmer vom Nikolaikirchhof mit Kerzen durch die Innenstadt bis zur Gottschedstraße, um auf dem ehemaligen Standort der Synagoge der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken. Wieder hatten sie brennende Kerzen dabei; der Marsch war erstmals offiziell genehmigt. Ein Zufall der Geschichte war es, dass der 9. November 1989 an jenem Abend eine weiter historische Bedeutung erhielt: Während die Menschen in Leipzig sich an vertriebenen und ermordeten jüdischen Mitbürger ihrer Stadt erinnerten, fiel in Berlin die Mauer. Der Staat befand sich in Auflösung; die Teilnehmer des diesjährigen Kerzenzuges mussten nicht mehr mit Repressalien rechnen. Obwohl augenscheinlich war, dass ein Umbruch durch das Land ging und eine gewisse Spannung in der Luft lag, nahmen sich so viele Menschen die Zeit und die innere Ruhe, die dafür nötig ist, und gedachten der Opfer des Holocausts. Dieser Aspekt der deutschen Geschichte war auch in der Friedlichen Revolution präsent.

Zeitzeugen erzählen

Bei der Veranstaltungsreihe „Heute vor 30 Jahren: Leipzig auf dem Weg zur Friedlichen Revolution“ werden die jeweiligen Ereignisse aus dem Jahr 1989 und deren Hintergründe zunächst in einem einführenden Vortrag durch Tobias Hollitzer, Leiter der Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“, beleuchtet. Im Anschluss kommen Zeitzeugen unter der Moderation von Reinhard Bohse vom Bürgerkomitee Leipzig e.V. über das damalige Geschehen, aber auch über dessen Bedeutung für die heutige Gesellschaft miteinander und mit dem Publikum ins Gespräch.

Anwesend sind am Samstag, den 9. November 2019, um 19.00 Uhr im ehemaligen Stasi-Kinosaal der Gedenkstätte der ehemalige Vorsitzende der Jüdisch-christlichen Arbeitsgemeinschaft, Superintendent i.R. Friedrich Magirius, und der heutige Vorsitzende Dr. Timotheus Arndt. LVZ-Fotograf Volkmar Heinz, der den Schweigemarsch dokumentierte, wird Bilder zeigen. Fotojournalist Daniel Biskup präsentiert ebenfalls Fotos, die er nachts an der Berliner Mauer von feiernden Bürgern gemacht hat.

Veranstaltungsort: ehem. Stasi-Kinosaal der Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ (Nachbareingang, Goerdelerring 20). Eintritt frei.

Der nächste Termin der Reihe ist der 18. November 2019, bei dem es um die erste genehmigte Kundgebung des Neuen Forums geht.

Die Pressemitteilung als PDF-Datei.