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Sonntag, den 17. März 2002

Kohl-Urteil darf nicht für Beendigung der Aufklärung missbraucht werden

Kategorie: Pressemitteilung
Von: Bürgerkomitee Leipzig e.V.
Bürgerkomitee distanziert sich von Vorstoß Wolfgang Thierses

Das Kohl-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts hat in den vergangenen Tagen all jene auf den Plan gerufen, denen die Aufarbeitung der DDR-Geschichte schon immer ein Dorn im Auge war. Politiker und Prominente aller Couleur und Parteienzugehörigkeit übertrumpften sich gegenseitig mit teilweise abenteuerlichen und wenig durchdachten Forderung nach einem Ende der Aufklärung. Leider reiht sich nun auch Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in den Kreis der Schlussstrich-Protagonisten ein. Ohne jede Not fordert er plötzlich, die Überprüfung - beispielsweise von Abgeordneten - auf eine mögliche Stasi-Tätigkeit abzuschaffen.

Thierses Vorschlag unsachlich und überflüssig

Wenn der Bundestagspräsident eine solche Schlussfolgerung aus dem Urteil zieht, dann hat er es entweder nicht verstanden, oder er nutzt es bewusst, um Polemik zu verbreiten. Denn das Gericht hat mitnichten eine "Ausnahmesituation" oder "Übergangsphase" beendet, wie Thierse im "Spiegel" behauptet, sondern lediglich über die Auslegung einer missverständlichen Formulierung in §32 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUG) entschieden. Eine "Ausnahme" in der bundesdeutschen Gesetzeslandschaft bildet das StUG ohnehin nicht. Es geht im Gegenteil mit den bewährten und in Jahrzehnten gewachsenen bundesdeutschen Archiv- und Datenschutzregelungen größtenteils völlig konform und achtet das Recht auf informationelle Selbstbestimmung teilweise sogar noch penibler als diese.

Thierses Vorstoß ist ebenso unsachlich wie überflüssig. Der Gesetzgeber hat 1991 ohnehin eine 15-jährige Frist für Anfragen festgelegt, sodass solche nur noch bis Ende 2006 möglich sein werden. Im übrigen gibt es keinen Zwang zur Stasi-Überprüfung - das StUG schafft lediglich die gesetzlichen Grundlagen dafür. Es hat schon immer im Ermessen der jeweiligen Gremien gelegen, ob und inwieweit sie diese Möglichkeit ausschöpfen. Wie sich tausendfach gezeigt hat, zieht das Bekanntwerden einer Stasi-Vergangenheit nicht automatisch eine "Hexenjagd" nach sich. Mancher Politiker hat es sogar trotz seiner Verstrickungen zu hohen Ämtern gebracht. Wichtig ist in solchen Fällen, dass der Wähler Bescheid weiß über die Biographie des Betreffenden. So kann anschließend niemand sagen, er habe von nichts gewusst.

Das hohe öffentliche Interesse an verantwortungsvollen und sachgerechten Überprüfungen auf Stasi-Tätigkeit in öffentlichen Einrichtungen hat erst jüngst die lang anhaltende Debatte um ehemalige MfS-Mitarbeiter im Mitteldeutschen Rundfunk belegt.

Staatssicherheit war Minderheit in der DDR-Bevölkerung

Fraglich ist nach den Äußerungen Thierses, wieso er sich mit dem einen Prozent der DDR-Bevölkerung gemein macht, das sich der Diktatur andiente, statt mit den 99 Prozent, die eine zusammenarbeit mit der Staatssicherheit verweigerten. Und wenn schon ehemalige MfS-Mitarbeiter auf Wunsch des Bundestagspräsidenten heute nicht mehr aufgrund ihrer Vergangenheit "aus der Bahn geworfen" werden sollen, müsste die Regierung zumindest gleichzeitig die Millionen für die Rehabilitierung all jener aufbringen, die in 40 Jahren DDR eben wegen der Staatssicherheit aus der Bahn geworfen wurden und noch heute massiv darunter leiden.

Das Bürgerkomitee distanziert sich deutlich von den Forderungen Wolfgang Thierses und unterstützt stattdessen die Parteikollegen des Bundestagspräsidenten, die eine Novellierung des StUG noch vor der Sommerpause fordern. So stimmt es mit dem innenpolitischen Sprecher der SPD-Fraktion, Dieter Wiefelspütz, darin überein, dass der Aktenvernichtungs-Paragraph 14 gestrichen und §32 klargestellt werden muss.

Keine Spaltung von Ost und West

Allerdings plädiert das Bürgerkomitee im Gegensatz zu Wiefelspütz für eine weiterhin einheitliche Behandlung von Personen der Zeitgeschichte sowie Funktions- und Amtsträgern aus BRD und DDR. Alles andere würde eine Spaltung zwischen Ost und West hervorrufen. Dieser Argumentation folgen auch die Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen von Sachsen und Sachsen-Anhalt, die am Wochenende mehrfach falsch zitiert wurden. Auch sie sprechen sich für eine Gleichbehandlung des genannten Personenkreises bei der Aktenherausgabe aus, wollen aber darüber hinaus die DDR-Funktionsträger den MfS-Mitarbeitern gleichstellen.

In der Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags zum StUG, die für Ende April angesetzt ist, werden Polemik und wahlkampftaktische Überlegungen hoffentlich keinen Platz mehr haben. Stattdessen ist der Gesetzgeber aufgefordert, auf Fachwissen und Sachargumente von Aufarbeitungs-Experten - Historikern, Archivaren, Datenschützern, Juristen und anderen Wissenschaftlern - zurückzugreifen. Einen ersten umfassenden Novellierungsvorschlag für das StUG hat das Bürgerkomitee bereits Anfang Januar dieses Jahres ausgearbeitet und der interessierten Öffentlichkeit vorgelegt.