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Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

 

kaum jemand weiß, dass zwischen 1950 und 1953 annähernd 1.000 Deutsche von Sowjetischen Militärtribunalen zum Tode verurteilt, nach Moskau verschleppt und dort hingerichtet wurden. Erst ein groß angelegtes Forschungsprojekt brachte die Namen der Betroffenen zu Tage, sodass die Hinterbliebenen endlich Gewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen erhielten. Neben einem Buch gibt auch eine Wanderausstellung Auskunft über dieses dunkle Kapitel sowjetischer Besatzungsgeschichte. Sie ist bis zum 28. April in der Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ zu sehen und wird von einem Veranstaltungsprogramm begleitet. Mehr dazu lesen Sie in diesem Newsletter.

 

Wir laden Sie ebenfalls zur achten Leipziger Museumsnacht ein, für die wir am 21. April wieder die Türen der Gedenkstätte, des ehemaligen Stasi-Kinosaals und der früheren zentralen Hinrichtungsstätte der DDR in der Alfred-Kästner-Straße öffnen. Einer der Höhepunkte wird die exklusive Preview des Films „Unerwarteter Nahschuss“, einer bisher noch nicht gesendeten Folge der Serie SOKO Leipzig sein. Das vollständige Programm finden Sie im Punkt „Wir laden ein“.

 

Im Punkt „Rückblick“ berichten wir von den zahlreichen und gut besuchten Veranstaltungen, die im Rahmen von „Leipzig liest“ in unserer Gedenkstätte stattfanden. Insgesamt kamen mehr als 900 Gäste.

 

Wir freuen uns auf Ihren Besuch bei der Museumsnacht und wünschen Ihnen zunächst viel Freude beim Lesen des Newsletters.

Ihr Bürgerkomitee Leipzig

 

 

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INHALT

Wir laden ein

Rückblick

Aus der Arbeit der Gedenkstätte

Aus dem Gästebuch

 

 

 

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WIR LADEN EIN

 

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21. APRIL 2007, 18.00 – 24.00 UHR:

ACHTE LEIPZIGER MUSEUMSNACHT

„Alles hat seine Tiefen. Wer Augen hat, der sieht alles in allem.“ Welche Ambivalenz diese Worte aus den „Sudelbüchern“ von Georg Christoph Lichtenberg haben können, zeigte die SED-Herrschaft mit ihrem Anspruch auf Machtausübung ebenso wie der oftmals tragisch endende Kampf gegen sie. „Die Stasi – Das Auge der Partei“ ist dem entsprechend das Thema des Museums in der „Runden Ecke“ anlässlich der anstehenden Museumsnacht am 21.04.2007, die in diesem Jahr unter dem Motto „Augen auf!“ steht.

 

Da war zum Beispiel der heimliche Blick in Briefe und Pakete mit dem Zweck, den Postverkehr zu überwachen. Aber auch konspirativ auf Straßen und Plätzen geschossene Fotos zählten zur Überwachung, genauso wie die Kontrolle von Transitreisenden. All diese Maßnahmen sind Beispiele für die enorme „visuelle“ Präsenz der Staatssicherheit in der DDR und im alltäglichen Leben ihrer Bürger.

 

Doch auch noch subtilere Methoden, wie psychische Zersetzung, gehörten zu dieser Praxis. Ohne dass der Betroffene erkennen konnte, was mit ihm geschah, wurde er Opfer verdeckter Zersetzungsmaßnahmen. Einblicke in die Intim- und Privatsphäre waren für die Verfolger vom MfS Bestandteil ihrer operativen Praxis und wurden nicht hinterfragt. Etwas öffentlicher, aber nichtsdestoweniger gefährlich war das Auge, das der Machtapparat auf Jugendliche und Kinder geworfen hatte. Sie sollten angeworben werden und auf der Seite des Regimes gegen die „inneren und äußeren“ Feinde des Sozialismus kämpfen.

 

Aber auch die Überwachten hielten die Augen offen, und so sehr die Staatssicherheit sich auch bemühte, ihre Tätigkeit zu verschleiern – den demokratischen Aufbruch des Jahres 1989 konnte sie ebenso wenig verhindern wie den Zusammenbruch der DDR.

 

Zu all diesen Aspekten der „offenen Augen“ wird es im Museum in der „Runden Ecke“ ab 18.00 Uhr ständige Führungen mit den entsprechenden Schwerpunkten geben. Zusätzlich laufen im ehemaligen Stasi-Kinosaal verschiedene Filme zum Thema. Dort stehen auch ein Vortrag mit Power Point Präsentation über die Observationstechniken des MfS und zusätzliche Führungen durch die Sonderausstellung „Erschossen in Moskau...“ im Programm.

 

Abschließend zeigt das Bürgerkomitee eine exklusive Voraufführung einer Folge aus der Serie „SOKO Leipzig“. Sie befasst sich mit der Todesstrafe in der DDR und spielt teilweise in der ehemaligen zentralen Hinrichtungsstätte in Leipzig. Letztere ist während der Museumsnacht wieder geöffnet, und für Besucher besteht die seltene Möglichkeit, sich durch die Räume führen zu lassen.

 

 

PROGRAMM

 

Ab 18.00 Uhr ständig Führungen durch die Dauerausstellung „Stasi – Macht und Banalität“ in der ehemaligen Bezirksverwaltung für Staatssicherheit mit den Schwerpunkten:

 

DER HEIMLICHE BLICK IN BRIEFE UND PAKETE

Überwachung des Postverkehrs

 

„AUSSTEIGEN, KOFFERRAUM ÖFFNEN!“

Transitreisende im Visier der Staatssicherheit

 

ZWEI AUGEN IM ANORAK

Die heimliche Fotografie der Stasi

 

„WIR TUN ETWAS, WAS DU NICHT SIEHST, UND ... DAS MACHT DICH KAPUTT.“

Die psychischen Zersetzungsmethoden der Stasi

 

„WIR HABEN EIN AUGE AUF DICH.“

Die Anwerbung von Kindern und Jugendlichen zur Stasi-Mitarbeit

 

„WIR SIND DOCH KEINE AFFEN!“ – DOCH HÖREN, DOCH SPRECHEN, DOCH SEHEN

Der mutige Blick – vom Aufbruch bis zu den mächtigen Montagsdemonstrationen 1989 in Leipzig (eine Fotoausstellung von Johannes Beleites)

 

 

Programm im ehemaligen Stasi-Kinosaal

 

18.00 Uhr

TODESSTRAFE IN DER DDR. Ein Film des SWR

 

18.45 / 20.00 / 22.30 / 23.45 Uhr

FÜHRUNG DURCH DIE AUSSTELLUNG „ERSCHOSSEN IN MOSKAU“. Die Ausstellung widmet sich den 1000 Deutschen, die zwischen 1950 und 1953 von östlichen Geheimdiensten verhaftet, von sowjetischen Militärtribunalen in der DDR wegen angeblicher Militärspionage und antisowjetischer Agitation zum Tode verurteilt und in Moskau hingerichtet wurden. Ein geschichtspolitisch bislang in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenes Thema.

 

19.15 Uhr

„DAMALS IN DER DDR – STAAT AM ENDE“. Die Dokumentation wirft einen schonungslosen Blick auf das Ende der SED-Diktatur. 2005, 45 Min. Ein Film von Brit Beyer und Karsten Laske. Koproduktion von MDR und LOOKS Film & TV.

 

21.15 Uhr

DER GEHEIME BLICK AUF STRAßEN UND PLÄTZE, IN HÄUSER UND WOHNUNGEN. Observationstechnik des MfS. Ein Vortrag von Detlev Vreisleben, Köln.

 

22.00 Uhr

„REVISOR“. Die konspirative Durchsuchung der Wohnung eines Leipziger Schriftstellers durch die Stasi. 45 Min. Ein Stasi-Schulungsfilm

 

23.00 Uhr

„UNERWARTETER NAHSCHUSS“. Exklusive Voraufführung einer neuen Folge der Krimiserie „SOKO Leipzig“. 2007, 45 Min. Ein Film von Nani Mahlo, UFA-Fernsehproduktion GmbH, NL Leipzig, im Auftrag des ZDF.

 

 

Die ehemalige zentrale Hinrichtungsstätte der DDR in der Alfred-Kästner-Straße (Zugang Arndtstraße 48) ist ebenfalls von 18.00 bis 24.00 Uhr geöffnet. Dort finden ständig Führungen zum Thema „Todesstrafe in der DDR – Hinrichtungen in Leipzig“ statt. Außerdem ist eine gleichnamige Ausstellung zu sehen.

 

 

 

 

BEGELEITPROGRAMM ZUR SONDERAUSSTELLUNG „ERSCHOSSEN IN MOSKAU“

Bis zum 28.04.2007 ist die Ausstellung im ehemaligen Stasi-Kinosaal im Museum in der „Runden Ecke“ zu sehen. Ergänzend finden währenddessen Begleitveranstaltungen statt.

 

 

19. APRIL 2007, 19.00 UHR

„SOWJETISCHE MILITÄRGERICHTE ALS ELEMENT KOMMUNISTISCHER DIKTATURDURCHSETZUNG IN SACHSEN“,

Mit der Besetzung Ostdeutschlands 1945 exportierte die Sowjetunion unter Stalin auch ihr Justizsystem nach Deutschland. Etwa 35.000 Zivilisten wurden zwischen 1945 und 1955 in der SBZ/DDR von sowjetischen Militärtribunalen wegen Staats-, Kriegs- und Alltagsverbrechen zu hohen Strafen verurteilt, fast 2000 hingerichtet. Im Vordergrund stand dabei die repressive Absicherung der sowjetischen Besatzungspolitik und dem Aufbau der SED-Diktatur. Im Vortrag beleuchtet der ausgewiesene Experte Dr. Mike Schmeitzner die Dimensionen dieser politischen Justiz und anhand herausragender Einzelbeispiele die konkrete Umsetzung im Leipziger und sächsischen Raum. Die enge Zusammenarbeit der DDR-Staatssicherheit mit den sowjetischen Dienststellen wird ebenso thematisiert wie die Frage nach den damaligen Orten der Repression.

 

Referent:

DR. MIKE SCHMEITZNER, Historiker, Hannah-Arendt-Institut Dresden

 

 

26. APRIL 2007. 19.00 UHR

„HERBERT BELTER UND DER WIDERSTAND AN DER LEIPZIGER UNIVERSITÄT“

Dr. Gerald Wiemers, ehemaliger Leiter des Archivs der Universität Leipzig, referiert am Beispiel von Herbert Belter über die Durchsetzung der Diktatur an Universitäten und über den studentischen Widerstand. Der Freundeskreis um Herbert Belter begehrte gegen ein einseitig an ideologischen Grundsätzen ausgerichtetes System auf, er klagte Freiheit und Demokratie ein und wandte sich gegen die ideologische Gleichschaltung des akademischen Lebens. Herbert Belter wurde als willkürlich ausgewählter Rädelsführer zum Tode verurteilt und am 28. April 1951 in Moskau erschossen. Wiemers Recherchen ist es zu verdanken, dass der Fall ins öffentliche Bewusstsein rückte. Inzwischen gibt es auch eine Belterstraße in Leipzig. Der ehemalige Leiter des Universitätsarchivs brachte die noch lebenden Protagonisten zusammen und hat darüber hinaus ein Gedenkbuch für verfolgte Studenten und Mitarbeiter der Universität angeregt.

 

Gerald Wiemers diskutiert während der Veranstaltung mit zwei der ehemaligen Studenten aus dem Freundeskreis von Herbert Belter: Ernst Friedrich Wirth wurde im Juli 1952 zum Tode verurteilt und im Oktober desselben Jahres zu zwanzig Jahren Haft begnadigt. Bis 1954 verbüßte er seine Strafe in Workuta und wurde 1956 in die Bundesrepublik entlassen.

 

Teilnehmer:

DR. GERALD WIEMERS, Archivar i.R.

ERNST FRIEDRICH WIRTH, Zeitzeuge

PROF. DR. SIEGFRIED JENKNER, Zeitzeuge

 

 

 

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RÜCKBLICK

 

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22. MÄRZ 2007

„ERSCHOSSEN IN MOSKAU“, Buchpremiere und Vernissage

Fast eintausend Tote. Mehr als 50 Jahre der Ungewissheit. Und nun ein „papierner Grabstein“, der hundertfachen Mord aufzeigt und Anklage erhebt. Die Ausstellung „Erschossen in Moskau...“, die am 22.03.2007 im Rahmen von „Leipzig liest“ im Museum in der „Runden Ecke“ eröffnet wurde, gibt den Opfern einen Namen und ihre Stimme zurück, entreißt sie dem Schatten schweigender Anonymität und befreit aus einem Netz, gesponnen aus Lügen, hohnlachenden Akten und Ignoranz.

 

Diesen Schritt in Richtung eines würdigen Gedenkens gingen die Autoren des gleichnamigen Buches Jörg Rudolph, Frank Drauschke und Alexander Sachse, die ihre Publikation parallel zur Ausstellungseröffnung präsentierten. Angesichts von „immer weniger Rehabilitationen in letzter Zeit“, wie Rudolph herausstrich, sind Buch und Exposition mehr als nur bittere Notwendigkeit. Sie sind die Mahnungen einer vergangenen Zeit, die eben noch nicht ad acta gelegt werden können und dürfen, sondern deren Aktualität erschreckend hoch ist.

 

So werde die Arbeit der Menschenrechtsorganisation Memorial in Russland heute schwerer denn je, so Drauschke. Auch seine Forschergruppe hatte sich in unterschiedlichsten Archiven informieren müssen und sei immer wieder auf falsche Auskünfte gestoßen. Umso wichtiger aber war diese Arbeit, denn es gab in der Tat Menschen, die erst durch das Buch auf das Schicksal ihrer Väter aufmerksam wurden, weil diese bis dahin als verschollen gegolten hatten. Biographien seien durch die Unrechtspraxis abgeschnitten und „Lebenspläne unmöglich gemacht“ worden, sagte Moderator Tobias Hollitzer vom Bürgerkomitee Leipzig e.V. auch in Bezug auf die Angehörigen der Opfer.

 

Dass zwischen 1950 und 1953 sowohl entgegen dem geltenden DDR- als auch dem Völkerrecht Urteile gefällt und vollstreckt wurden, dass wegen angeblicher Spionage oder antisowjetischer Tätigkeit willkürliche Verhaftungen stattfanden und dass die Sowjets bis zu 30 Personen in einer Nacht im Moskauer Gefängnis Butyrka erschossen und anschließend auf dem Friedhof Donskoje anonym verscharrten – diese Fakten, so unglaublich und schwer vorstellbar sie auch sein mögen, sind nunmehr bekannt. Gerade einmal sieben Prozent der Verurteilten konnten das tödliche Schicksal mit einem Gnadengesuch abwenden.

 

Wie selten diese Gesuche angenommen wurden, hat auch der bei der Veranstaltung anwesende Zeitzeuge Siegfried Hentschel erlebt. Nur zwei solcher „Fälle“ habe er persönlich kennen gelernt. Er selbst hatte Flugblätter verteilt und wurde daraufhin wegen Spionageverdacht 1951 verhaftet. Kontakte zu den anderen aus seiner Gruppe gab es in den sowjetischen Lagern nicht mehr. Ob er damals die Gefahren seiner Aktionen habe einschätzen können, fragte Moderator Tobias Hollitzer und bekam ein klares „Ja“ zur Antwort. Bis heute erhält Hentschel keine Entschädigung für das damals erlittene Unrecht. Aber er hat überlebt – und das können nur wenige Menschen, gegen die solche Verfahren eröffnet worden sind, von sich sagen.

 

So traf die sowjetische Pseudojustiz unter anderem auch 243 Männer und Frauen aus Sachsen, deren Schicksal auf Initiative des Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Michael Beleites, in einem gesonderten Buch, „Hingerichtet in Moskau“, erforscht und dargestellt wurde. Die „regionalen Besonderheiten herauszuarbeiten“ und die sächsischen Opferschicksale in den „Kontext stalinistischer Diktaturgeschichte“ einzuarbeiten sind ihm zu Folge die primären Zielstellungen des Werkes.

 

Eine solche detaillierte Aufarbeitung ist auch absolut unerlässlich. Die damaligen Geschehnisse sind unter Aspekten wie Wirtschaftsprosperität in der Bundesrepublik und dem beginnenden Kalten Krieg aus dem Blickwinkel der öffentlichen Wahrnehmung gerückt und waren bis vor kurzer Zeit nicht einmal ausgewiesenen Historikern bekannt. Nun ist dieser Teil der deutsch-russischen Vergangenheit frei gelegt und so die Basis geschaffen für eine Verarbeitung der Geschehnisse. Das Massengrab kann besichtigt werden und Trauer an einem geeigneten Ort stattfinden – die Opfer haben ein Gesicht bekommen und können nun einen festen Platz im kollektiven Gedächtnis einnehmen. Sowohl die Ausstellung als auch die Publikationen sind ein wichtiger Beitrag zur Wiederherstellung ihrer Würde und unverzichtbar um „Menschen erreichen zu können“, so Dr. Robert Grünbaums von der Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur.

 

 

23. MÄRZ 2007

VERTUSCHTE VERBRECHEN. KRIMINALITÄT IN DER STASI, Buchpremiere und Diskussion

Wenn über die Verbrechen der Staatssicherheit gesprochen wird, ist in der Regel von Überwachung, Repression und Missachtung der Menschenwürde die Rede, dass heißt es geht um die kriminelle Arbeitsweise des Ministeriums für Staatssicherheit. Einen anderen Blick auf das Thema wählten Klaus Behling und Jan Eik in ihrem Buch „Vertuschte Verbrechen“, das sie am 23.03.2007 im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Leipzig liest“ im ehemaligen Stasi-Kinosaal vorstellten. Die Autoren beleuchten in ihrer Publikation nicht das verbrecherische Vorgehen des Ministeriums für Staatssicherheit als Staatsorgan, sondern richten das Augenmerk auf die persönliche Kriminalität von MfS-Mitarbeitern.

 

Diese förderte Einiges zutage. Vor allen Dingen stießen Behling und Eik auf Eigentumsdelikte, darunter recht banale Diebstähle. Aber sie fanden auch Fälle der Unterschlagung, Urkundenfälschung und Schiebung und nicht zuletzt kaltblütigen Mord – begangen von MfS-Mitarbeitern, die sich beispielsweise ihrer Ehefrau entledigen wollten, um ungehindert mit ihrer Geliebten leben zu können. Eine andere Geschichte ist die des „Millionen-Mannes“. So hat es laut Behling einen Stasi-Offizier gegeben, der sich mittels Unterschlagung ein Vermögen von 30 Millionen DDR-Mark aneignete. Der Mann habe gemeinsam mit einem IM und seiner Sekretärin bzw. späteren Geliebten eine Vertreterfirma gegründet und die Provisionen aus Außenhandelsgeschäften schließlich schlicht nicht mehr abgeführt. Dies sei 15 Jahre lang gut gegangen. Als der Fall entdeckt wurde, beeilte sich das MfS jedoch, ein Papier zu dem Fall zu erstellen. Dieses beinhaltete Argumente gegen ein mögliches Strafverfahren gegen den Offizier. Die Schlussfolgerung der Autoren: „Man hatte Angst um den ‚guten Ruf’ des MfS!“ Es habe den Vorschlag gegeben, den Fall „intern“ zu regeln, das heißt, man wollte die Sache unter den Tisch kehren. Nur weil der Mann das Ministerium verleumdete und somit „gefährlich“ wurde, machte man ihm schließlich doch den Prozess.

 

Eik und Behling stellten weitere Fälle exemplarisch vor und berichteten über die Ermittlungstätigkeit der Abteilung IX des Ministeriums, die für die Aufklärung von durch MfS-Mitarbeiter begangenen Straftaten zuständig war. Die Ermittlungen seien meist sachlich und genau verlaufen – allerdings unter strengster Geheimhaltung, und von unabhängiger Justiz könne keine Rede sein: Die Urteile seien bereits lange vor Beginn der Gerichtsverhandlung – so sie denn stattfand – von politischer Seite festgelegt worden. Außerdem sei sehr häufig Rechtsbeugung, das heißt die bewusst falsche Anwendung des Rechts, praktiziert worden, erklärte Christoph Schaefgen, Generalstaatsanwalt i.R., im Gespräch mit den Autoren und dem Publikum. Man habe Sachverhalte systematisch verfälscht. Ein tätlicher Angriff sei etwa als Notwehr konstruiert worden. Schaefgen, der bei seiner früheren Tätigkeit zwar nicht mit persönlicher Delinquenz, sondern mit Kriminalität von Amts wegen zu tun hatte, wies darauf hin, dass die in dem Buch geschilderten Fälle dennoch auch grundsätzliche Fragen bezüglich der Arbeit des MfS ansprächen, etwa die Praxis, bei der Frage nach der Einleitung von Gerichtsverfahren nach Gutdünken zu entscheiden.

 

Bei den vorgestellten Fällen handelte es sich nur um eine Auswahl. So war den Autoren der groß angelegte Diebstahl von Geld, Briefmarken und Wertgegenständen aus Briefen und Paketen – begangenen auch von Leipziger Stasi-Offizieren – bisher unbekannt. Die MfS-Mitarbeiter hatten das Diebsgut nicht wie vorgeschrieben an die Stasi-Finanzabteilung abgeführt, sondern in die eigene Tasche gesteckt. Bestraft wurden sie dafür auf Anweisung Mielkes nicht.

 

Um auch solche Fälle noch aufzurollen, wird laut Auskunft der Autoren bald ein weiterer Band folgen.

 

 

23. MÄRZ 2007

SIE NAHMEN MIR NICHT NUR DIE FREIHEIT, Buchpremiere und Diskussion

Eva-Maria Neumanns Buch ist ein bewegendes Dokument deutsch-deutscher Geschichte. Die Musikerin und Autorin stellte es am 23.03.2007 im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Leipzig liest“ im voll besetzten Stasi-Kinosaal in der „Runden Ecke“ vor. In „Sie nahmen mir nicht nur die Freiheit“ berichtet Neumann von ihrer missglückten Flucht aus der DDR und der sich daran anschließenden Zeit in fünf verschiedenen Gefängnissen. In einer Mischung aus Lesung und Gespräch mit ihrem Verleger Christian Strasser schilderte die Autorin dem Publikum ihre Erlebnisse in den verschiedenen Haftanstalten und ihre Empfindungen zwischen Resignation und Hoffnung, zwischen Ungewissheit, Angst – und auch Freude, etwa beim Wiedersehen mit Mann und Tochter.

 

Am 19. Februar 1977 wartete Eva-Maria Neumann gemeinsam mit ihrem Mann Rudolph und ihrer Tochter Constanze an einer Straße in Leipzig auf ein Fluchtauto. Es war bereits das fünfte Mal, und wie sie es in der Vergangenheit stets erlebt hatten, schien der Wagen auch dieses Mal nicht zu kommen. Die Familie hatte sich schon darauf eingestellt, erneut nach Hause zurückzukehren, als schließlich, mit einer halben Stunde Verspätung, der ersehnte Wagen doch noch vorfuhr. „Dann ging alles ganz schnell, und wir lagen plötzlich alle drei im Kofferraum“, erzählte die Autorin. Nach zweieinhalb Stunden hielt der Wagen – und fuhr wieder an. Sie sei erleichtert gewesen, sagte Neumann, denn sie habe geglaubt, die Grenze überquert zu haben. Allerdings wunderte sie sich bald, warum man sie nicht aus dem Kofferraum holte. Dann hielt der Wagen wieder – und von draußen ertönte der Befehl, der Kofferraum solle geöffnet werden. Hunde waren zu hören. „Da wusste ich: Jetzt ist alles vorbei!“, erzählte Neumann. Es folgte die Trennung von Mann und Kind: „Der Genosse bringt Ihre Tochter jetzt ins Kinderheim“, sagte einer der Stasi-Offizier in Grenzeruniform. Sie selbst wurde in das Leipziger Untersuchungsgefängnis gebracht. Sie musste sich stundenlangen Verhören unterziehen, in ihrer Zelle war es kalt, und statt eines Betts gab es nur eine steinharte Pritsche. Die Inhaftierte litt monatelang unter der totalen Isolation und dem endlosen Warten. Schließlich wurde ihr der Prozess gemacht, und bei der Urteilsverkündung am 25. August 1977 hieß es: drei Jahre Haft.

 

Es folgte eine harte Zeit in verschiedenen Gefängnissen, unter anderem dem berüchtigtsten Frauengefängnis der DDR, Hoheneck. Man steckte Eva-Maria Neumann in dunkle, schmutzige, überbelegte Zellen. Es gab Misshandlungen unter den Gefangenen und Schikanen durch die Wärterinnen. Trotz einer schweren Gelenkerkrankung musste sie harte körperliche Arbeit leisten. Im Haftkrankenhaus Meusdorf, in das man sie schließlich brachte, waren die Verhältnisse kaum besser. „Zwischendurch dachte ich: Du kommst hier nie wieder raus“, so Neumann. Doch am 26. September 1978 war es so weit. Sie musste ihre Sachen packen, wurde in einen Hof geführt, wo sie ihren Mann wieder traf, und ein Bus brachte beide über die Grenze. Erst ein halbes Jahr später gelang es dem Ehepaar, ihre Tochter, die bis dahin nicht im Kinderheim hatte bleiben müssen, sondern bei den Großeltern gelebt hatte, zu sich bringen zu lassen.

 

 

23. MÄRZ 2007

UNTER KONTROLLE, Buchpremiere und Diskussion

Die Staatssicherheit überwachte und kontrollierte alle Bereiche der Gesellschaft – auch die Universitäten blieben nicht verschont. Sie standen im Gegenteil sogar unter besonderer Beobachtung. Als Orte der Ausbildung des akademischen Nachwuchses und damit der zukünftigen Führungsschicht sowie auch der geistigen Auseinandersetzung mit der DDR-Gesellschaft waren sie für die Stasi besonders interessant. Steffen Reichert, Absolvent der Universität Leipzig und heute Sprecher des Finanzministeriums in Sachsen-Anhalt, stellte am 23.03.2007 im Rahmen von „Leipzig liest“ sein Buch „Unter Kontrolle – Die Martin-Luther-Universität und das Ministerium für Staatssicherheit 1968-1989“ im Museum in der „Runden Ecke“ vor. Anschließend diskutierten Wissenschaftler und das Publikum zum Thema: „Die Karl-Marx-Universität im Visier der Stasi – Aufarbeitung an der Leipziger Universität im Vorfeld des Jubiläums 2009“.

 

Steffen Reichert schrieb seine Diplomarbeit an der Uni Leipzig über den Wandel der Leipziger Volkszeitung vom Zentralorgan der SED zu einer freien Zeitung. Nun hat er in seiner Dissertation „Unter Kontrolle“ am Beispiel Halle die Aktivität des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Bezug auf Universitäten systematisch aufgearbeitet. Die Idee für die Publikation entstand aus der Diskussion an der Hallenser Alma Mater anlässlich ihres 500-jährigen Jubiläums im Jahr 2002. Laut Reichert können die Ergebnisse seiner Forschung in weiten Teilen verallgemeinert werden: „An allen Unis gab es die gleichen Strukturen und ein ähnliches Vorgehen bei der Überwachung.“ Als Ausgangspunkt wählte er gezielt das ereignisreiche Jahr 1968. Die dritte Hochschulreform der DDR wurde auf den Weg gebracht, die erste sozialistische Verfassung trat in Kraft und es gab ein neues Strafgesetzbuch. Außerdem war es das Jahr des „Prager Frühlings“, der eine Verschärfung im Bereich Sicherheitspolitik nach sich zog.

 

Reichert gab einen Einblick in die Überwachungstätigkeit des MfS an der Universität Halle-Wittenberg, die sich vor allem auf die Bereiche Geschichtswissenschaften, Theologie, Biowissenschaften und Medizin konzentrierte. Er berichtete über den permanenten Rekrutierungsprozess von IM, der wegen der hohen Fluktuation an der Uni stattfinden musste, und erläuterte die Strategien und Ziele der Anwerbung. Letztere bestanden zum Beispiel darin, einen reibungslosen Ablauf von Lehre und Forschung im Sinne der politischen Vorgaben sicherzustellen, so genanntes „feindlich-negatives Verhalten“ an den Universitäten zu unterbinden und einen Einfluss der Kirche auf dem Campus nachhaltig zu verhindern. Weiter wollte man den Forschungsablauf überwachen und Forschungsergebnisse für staatliche Zwecke sicherstellen – dies galt insbesondere für die Flüssigkristallforschung, die den Schwerpunkt der Universität darstellte – und die Wissenschaft gegen Spionage absichern, da man befürchtete, es könnten Forschungsergebnisse abfließen. Außerdem wollte man die Uni auch als Kaderreservoir für hauptamtliche Mitarbeiter des MfS nutzen.

 

Im Anschluss an Reicherts Ausführungen diskutierten der Historiker Prof. Günther Heydemann und der Theologe Prof. Günther Wartenberg mit dem Publikum über den Stand der Aufarbeitung an der Leipziger Universität. Wartenberg berichtete über die Arbeit eines Vertrauensausschusses, der im Herbst 1990 zum Zweck der Überprüfung des Personals – sowohl im Hinblick auf fachliche Qualifikation und persönliche Integrität als auch auf frühere MfS-Tätigkeit – gebildet worden war. Nach dem ausführlichen Gespräch über die personelle Aufarbeitung, das beim Publikum auf großes Interesse stieß, wurde in der Diskussion die Frage nach der wissenschaftlichen Aufarbeitung aufgeworfen: Wie weit ist diese in Leipzig? Günther Heydemann, Experte für neuere Zeitgeschichte, erklärte: „Es gibt noch keine geschlossene monographische Arbeit zu unserer Universität ähnlich der von Herrn Reichert über die Uni Halle-Wittenberg, aber die Arbeiten sind im Gange.“ Pünktlich zum 600-jährigen Jubiläum der Universität im Jahre 2009 soll ein fünfbändiges Werk zur Geschichte der Universität erscheinen, das neben der historischen Darstellung auch baugeschichtliche und kunsthistorische Aspekte einbezieht. Ausführlich wird darin auch der Einfluss des MfS auf die „Karl-Marx-Universität“ behandelt werden.

 

 

24. MÄRZ 2007

GEFANGEN UND FREIGETAUSCHT, Buchvorstellung, Lesung und Diskussion

Es sei ein schöner, lauer Frühlingsabend gewesen, an dem die Sonne alles in ein gelblich waberndes Licht tauchte. Auf der Straße habe er noch einen alten Klassenkameraden getroffen, mit dem er sich kurz unterhielt. Im Nachhinein, erinnerte sich Dr. Matthias Bath, war es wie ein letztes Abschiednehmen von der ihm vertrauten Welt an jenem verhängnisvollen Sommertag, der zum Auftakt einer 1197 Tage andauernden Haft in der DDR werden sollte.

 

Baths Verhältnis zum selbst ernannten Arbeiter- und Bauernstaat war geprägt von seinen vielen Verwandten, die dort lebten. Dies sei die wichtigste Motivation für ihn als Bundesbürger gewesen, sich für die Menschen der DDR einzusetzen und ihnen zu helfen; schließlich in eine Fluchthelferorganisation einzutreten, seinen Wagen umzurüsten und Menschen illegal von Ost nach West zu schmuggeln. Mit welch drastischen Strafen er bei einem Fehlschlag zu rechnen hatte, war ihm bewusst.

 

Die Hinfahrt gelang noch ohne Probleme, die Grenzer winkten ihn durch und wünschten ihm sogar eine schöne Fahrt. Erst viel später erfuhr der Autor aus seinen Akten, dass bereits zu diesem Zeitpunkt speziell geschulte MfS-Mitarbeiter seine verdächtig starken Stoßdämpfer bemerkt und daraufhin Maßnahmen zur Kontrolle bei der Ausreise eingeleitet hatten. Und so fuhr er arglos die geplante Route, traf seinen Zubringer und störte sich nicht einmal daran, dass dieser sich an keine Regel hielt. Das festgelegte Prozedere für die Übergabe der Flüchtlinge musste er beinahe mit Gewalt durchsetzen – misstrauisch aber wurde Bath nicht. Das hätte ihn damals retten können.

 

„Unsere Fahrt hatte ihr Ende gefunden“, kommentierte der Autor des Buches „Gefangen und freigetauscht. 1197 Tage als Fluchthelfer in DDR-Haft“ am 24.03.2007 im Rahmen der Leipziger Buchmesse im Museum in der „Runden Ecke“ den beinahe schicksalhaften Ausgang des Tages am Grenzübergang Marienborn. Lakonisch ist seine Art zu erzählen, stark verdichtet und doch packend. Moderator Helmuth Frauendorfer bezeichnete es zu Beginn der Veranstaltung als „faszinierend, mit welch penibler Genauigkeit ein Protokoll völlig emotionslos aufgeschrieben wurde“ – und meinte damit die Staatssicherheit. Er verwies damit gleichermaßen auf die Ironie, mit der Barths Art zu schreiben diesen Stil zu parodieren schien.

 

Und so beschrieb Bath die einzelnen Stationen seiner Haft. Sie begann in Zelle 128 der berüchtigten Haftanstalt Berlin-Hohenschönhausen („ich war endgültig Gefangener“), setzte sich fort in Frankfurt/Oder („alles empfand ich gegenüber Hohenschönhausen als besser“) und fand ihren ersten Höhepunkt in der Anklage und dem darauf folgenden Verfahren gegen ihn. Als Westdeutscher lernte er das Justizsystem noch von einer recht humanen Seite kennen. Verhältnismäßig gut und fair sei er behandelt worden und sogar eine Liegerlaubnis sei ihm wegen eines Rückenleidens erteilt worden.

 

Doch auch die Paradoxien der DDR-Justiz blieben ihm nicht erspart, und so musste Bath sich mit wechselnden Staatsanwälten, nichts sagenden Anklageschriften und bestenfalls als unfähig zu bezeichnenden Rechtsanwälten herumschlagen. Einer der Sätze des Anwaltes war: „Das Urteil höre ich mir nicht mehr an.“ Insgesamt sei die „Fluchthilfe fast zu einem nebensächlichen Anhängsel“ geworden, resümierte Bath die juristische Farce, in deren Folge er zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Heute macht Bath den Eindruck all dies überwunden zu haben und nunmehr mit einem Schmunzeln über seine Haftzeit sprechen zu können.

 

Folgerichtig war die erste Frage aus dem Zuschauerraum die nach der Verarbeitung, die scheinbar sehr gut und vor allem gewissenhaft gewesen sein muss, denn Baths Aufzeichnungen zeigen die Akkuratesse eines Protokolls. Insbesondere die Rückkehr zu seiner Familie, für die er ja ein „verlorener Sohn“ gewesen sei, habe ihm sehr geholfen, wie schon während der Haft die Briefe. Der Grund für seine genauen Erinnerungen sei ein System von Rastern, in die er das Jahr eingeteilt und alle Vorkommnisse zu bewahren versucht habe. Bereits den Wärtern sei aufgefallen, wie penibel er sich alles anschaue und merke. Hörte man Bath zu, drängte sich schnell das Gefühl auf, dass er so den Machtapparat des MfS mit dessen eigenen Mitteln heute noch nachträglich Hiebe versetzt und Rache nimmt an einem rückblickend lächerlich anmutenden aber dennoch von gewissenhafter Perfidie gezeichneten System.

 

 

24. MÄRZ 2007

„ICH WERDE DANN GEHEN“, Buchvorstellung, Vortrag und Diskussion

Er passte nicht in die nach Erich Honeckers Machtantritt postulierte „entwickelte sozialistische Gesellschaft.“ Ganz im Gegenteil: Seine Aktion war ein deutlicher Hinweis auf die Existenz der zahlreichen und heterogenen Parallelgesellschaften, die sich wie Nachtschattengewächse DDR-weit gebildet hatten. Die Selbstverbrennung des Rippichaer Pfarrers Oskar Brüsewitz mitten in Zeitz sei ein „flammendes Zeichen dafür gewesen, dass es zu viel Unterdrückung und Indoktrination gab“, fasste Pfarrer Lothar Tautz den Kern der Tat zusammen, die er zusammen mit Karsten Krampitz und Diether Ziebarth im Buch „Ich werde dann gehen. Erinnerungen an Oskar Brüsewitz“ beschreibt.

 

Das Buch wurde im Rahmen von „Leipzig liest“ am 24.03.2007 im ehemaligen Stasi-Kinosaal im Museum in der „Runden Ecke“ vorgestellt. Es zeigt, dass die Erinnerung an Brüsewitz bis heute im Bewusstsein der Menschen verankert ist. Der Pfarrer selbst hätte das so nicht gewollt, betonte Dr. Erhard Neubert in seinem Einführungsreferat. Es sei ihm um das Zeichen gegangen, die Symbolik der Tat und wirklich „war es uns ein Zeichen dafür, dass es Grenzen gibt für die Einschränkung der Freiheit des Individuums.“

 

Diese bekam Brüsewitz zu spüren. Er engagierte sich für die Jugend seiner Pfarrgemeinde und wurde daraufhin mit Repressionen attackiert. Als schließlich sogar die eigene Landeskirche ihm riet, sein Pfarramt doch an einem anderen Ort auszuüben, machte er sich „auf seinen letzten Gang“, so Neubert weiter. Diese letzte, allumfassende Selbstopferung war nicht ohne Beispiel in Literatur und Geschichte. So hatten bereits die Buddhisten zum Mittel der Selbstverbrennung gegriffen, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren, und der Autor Ulrich Plenzdorf schilderte in der Ur-Version seines Buchs „Die neuen Leiden des jungen W.“ ein Schicksal, das dem Brüsewitz’ nicht unähnlich ist. Bezeichnenderweise wurde diese Fassung – bei der es um Selbstmord ging – geändert, weil ein solcher Tod nach dem Selbstverständnis des SED-Regimes in der DDR nicht vorkommen durfte.

 

Mehr noch aber als die persönliche Tat sei die politische Wirkung entscheidend gewesen, so Neubert. Der traumatische Prestigeverlust für MfS und DDR war enorm; bis hin zur beschämenden Bestattung, die von der gewollt offensichtlichen Präsenz einer großen Zahl von Stasi-Mitarbeitern in den Schmutz gezogen wurde. Verleumdungen folgten und der Versuch, mit aller Kraft einen Brüsewitz-Gedenktag zu verhindern. Doch weder die DDR-Bürger noch das westliche Ausland ließen sich über den wahren Hintergrund der Tat täuschen – bis heute nicht.

 

Pfarrer Tautz betonte, wie wichtig das Gedenken an den selbstaufopfernden Pfarrer nach wie vor ist und hob hervor, dass es „dieses Jahr zum ersten Mal eine Brüsewitz-Gedenkwanderung gab“. Diese endete mit Absicht nicht an der Stelle der Tat – immerhin ist Suizid im christlichen Glauben eine Sünde – sondern an dem Spielplatz, den Brüsewitz für die Kinder seiner Gemeinde eingerichtet hatte. Zu sehen sei heute auch noch ein Neonkreuz, das er damals als Protest gegen die Verdrängung der Kirche aus dem alltäglichen Leben angebracht hatte. „Wegen zu hohem Stromverbrauch“, so die offizielle Begründung der DDR-Regierung, habe es ausgeschaltet werden müssen, erläuterte Tautz.

 

Doch auch wenn das Kreuz nicht leuchten durfte, stand es doch symbolisch und für alle sichtbar in Opposition zum Willen des MfS. Der Mut, den es brauchte, um ein solches Zeichen im Wahlkreis Erich Mielkes zu setzen, war enorm. Der Ärger der Stasi über die Aktion und letztlich über die Selbstverbrennung dürfte ähnlich hoch gewesen sein. Bis 1989 wurden „folgerichtig“ durch eine Kamera alle, die an das Grab des widerständigen Pfarrers traten, gefilmt und so dem MfS als Anhänger und Sympathisanten bekannt.

 

Das alles konnte jedoch die Erinnerung nicht auslöschen. „Brüsewitz wird seine Stellung in der evangelischen Kirche behaupten“, schätzte Neubert abschließend ein. Dies bestätigte auch die erste Frage aus dem Publikum. Es war die Frage danach, warum es erst jetzt – 31 Jahre nach der Verbrennung und 17 Jahre nach dem Fall der SED-Diktatur – eine Gedenkwanderung gegeben hat.

 

 

24. MÄRZ 2007

GEBOREN IM SCHATTEN DER ANGST, Lesung und Diskussion

Von einem eigenen „Mirokosmos“ berichtete am Abend des 24.03.2007 Klaus Schnellenkamp im Museum in der „Runden Ecke“. Im Rahmen von „Leipzig liest“ stellte er hier sein Buch „Geboren im Schatten der Angst“ vor.

 

Moderatorin Astrid von Willmann kündigte den Zuhörern bereits zu Beginn der Lesung an, dass der Autor sie in eine perfide, in sich abgeschlossene Welt der Angst führen werden: die Welt der Sekte Colonia Dignidad, der so genannten „Brautgemeinde Christi“ unter ihrem Chef Paul Schäfer. „Ich war erschüttert“, sagte die Moderatorin und nahm damit ein Gefühl vorweg, das sich während der Veranstaltung im gesamten Saal verbreitete. „Ich möchte nicht drum herum reden“, war der folgerichtige Auftakt des Autors, „ich fange einfach an.“

 

Anachronistisch führte er die Zuhörer durch sein jetziges Leben, seine Kindheit bis in die Zeit vor seiner Geburt. Aufgewachsen ist Schnellenkamp ohne Familie. Seine Geschwister waren ihm unbekannt, Eltern hatte er nicht. Erst viel später erfuhr er, dass sein eigener Vater ihn misshandelt hatte. All dies wegen des pädophilen Menschenverächters Paul Schäfer, der eine „unheilige Allianz mit dem chilenischen Diktator Pinochet“ geschlossen hatte.

 

Bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hatten gegen ihn rechtliche Vorwürfe wegen Kindesmissbrauchs vorgelegen – dennoch durfte er in Deutschland eine Art eigener Gemeinde gründen. Später dann zog er mit seinen Anhängern nach Chile, wo er einen autarken kleinen Staat aufbaute, den er jahrzehntelang patriarchalisch-martialisch führte. Es entstand ein System der Bespitzelung, des Hasses und der vorgetäuschten Träume, später von Gott erlöst zu werden. Schnellenkamp betonte, er habe diese Atmosphäre des Misstrauens und der Gewalt nur durch seinen tief wurzelnden Optimismus bis zuletzt überleben können.

 

Denn schon mit zwölf Jahren hatte er der „Gruppe der Geächteten“ angehört, weil ein von ihm unternommener Fluchtversuch gescheitert war. „Wir haben uns unser eigenes Ghetto gebaut“, sagte er dem Publikum, ein Entkommen war praktisch unmöglich. Misshandlungen folgten, psychische und physische Folter. Erst später konnte Schnellenkamp im Ansehen wieder steigen; schaffte es sogar, die Kanzlei der Sekte verwalten und so an verbotene Literatur kommen zu können. Das war eine beachtliche Leistung angesichts der Tatsache, dass sogar seine Toilettengänge genau protokolliert und überprüft wurden.

 

So konnte der geistig sehr gewandt und gebildet auftretende Schnellenkamp aus der Wissensindoktrination ausbrechen und der Glaubensperversion wenigstens ein Stück weit entkommen. „Mit dem Verstand“, erläuterte er, „kann man das gar nicht nachvollziehen.“ Jesus, Arschloch und Teufel waren ihm zufolge die Schlagworte Schäfers, unter die sich alles subsumieren ließ. Nicht einmal sie allerdings durfte der Autor während seines anderthalb Jahre dauernden Sprech- und Lachverbotes verwenden, das ihm als Strafe für die Flucht auferlegt worden war.

 

Heute aber könne er sprechen, auch wenn der Arm der Colonia Dignidad immer noch sehr lang und kräftig sei. Noch immer hätten die Sektenmitglieder trotz der Verhaftung und Verurteilung Schäfers volles Vertrauen in dessen Prophezeiungen. Er selbst sei sich keiner Schuld bewusst. „Das wirklich Schlimme ist, dass Schäfer all das selbst glaubt; er glaubt wirklich daran.“ Und so merken Schnellenkamps Geschwister – die ihn bei seiner Flucht, die ihm mit Hilfe des ZDF 2005 gelang, nicht einmal verabschiedeten oder auch nur ansahen – bis heute nicht, dass sie und ihr Glauben ausgenutzt und missbraucht werden.

 

Bei der abschließenden Diskussion mit dem Publikum, meldete sich ein Besucher zu Wort, der bereits vor der Veranstaltung den Kontakt zu Schnellenkamp gesucht hatte. Er streite sich seit Jahren mit der Colonia Dignidad, erklärte er, wegen Missbrauchs seines Kindes. Er habe Prozesse geführt, sie verloren und müsse nun Hunderttausende Euro Schulden abzahlen. „Dass ich sie auf diesem Wege persönlich kennen lerne...“, murmelte der Autor, „ich kenne Ihren Fall, ich war in der Kanzlei damit betraut. Man wollte sie fertig machen.“ Mit dieser Begegnung zweier sich so fremder und doch so naher Menschen endete eine Veranstaltung, bei der man häufig kaum glauben konnte, dass es sich bei den sagenhaften Berichten um reale Tatsachen handelte.

 

 

24. MÄRZ 2007

HURRA, WIR KAPITULIEREN!, Lesung

„’96 war die Welt noch in Ordnung.“ Mit diesem Gruß an die Vergangenheit machte Henryk M. Broder deutlich, dass es ihm zehn Jahre später um eine veränderte Welt geht, die eben alles ist, nur nicht mehr in Ordnung. „Das nächste mal gebe ich eine Lose-Blatt-Sammlung heraus“, meinte er weiter, sein Buch sei nämlich schon wieder veraltet gewesen, als er es gerade fertig gestellt hatte. Zum ersten Mal an diesem Abend des 24.03.2007, da er sein Werk „Hurra, wir kapitulieren!“ im Rahmen von Leipzig liest im der Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ vorstellte, hatte Broder die Lacher auf seiner Seite – und es sollten nicht die letzten gewesen sein.

 

Bereits die Beschreibung seiner ersten Erlebnisse nach dem Fall der Mauer belustigte das Publikum. Den Checkpoint-Charlie immer rauf und runter sei er gefahren und habe geschrieen „ich habe einen Flüchtling im Kofferraum!“. Die heile Welt der Ausgelassenheit, in der solche Aktionen möglich waren, gibt es Broders Buch zufolge nicht mehr. Stattdessen führte er die Appeasement-Politik Europas an, sprach von den Gefahren, die seiner Meinung nach aus einer indifferenten Haltung gegenüber dem Islam entstünden. Dabei, so sagte er, „wäre auch ich der idealtypische Amokläufer gewesen.“ Terroristen beneide er deswegen; ihm selbst habe nur der Beruf des Journalisten offen gestanden, der viel weniger angesehen sei.

 

Beim Thema Terror begann Broder zynisch gegen die aktuelle Bundespolitik zu wettern. Im Falle der RAF zum Beispiel habe man noch nicht so scharfzüngig zwischen Terror und Terrorismus unterschieden. Dies sei ebenso eine Haarspalterei wie die Trennung von Islam und Islamismus, wobei laut Broder hier das gleiche Verhältnis bestehe wie zwischen Alkohol und Alkoholismus. Solche Begriffbildungen dienten ausschließlich der Augenwischerei und sollten von den eigentlichen Problemen ablenken.

 

Zu diesem Zweck sei auch der Modebegriff des „Migrationshintergrundes“ geschaffen worden. „Der Migrationshintergrund war früher die schlesische Oma.“ Die sei höchstens mal schlecht gelaunt gewesen, habe aber – das sei der Unterschied zu heutigen Zeiten – Manieren besessen. Allerdings sei das Schreiben von Resolutionen und Schaffen von Neologismen unverbindlicher und einfacher als Handeln. Mittlerweile würde das dazu führen, dass sich breite Kreise sogar schon mit den nahöstlichen Lebensformen und Glaubensdirektiven solidarisierten. So habe Oskar Lafontaine von der Linkspartei bereits „Berührungspunkte zwischen islamischer Religion und der deutschen Linken“ ausfindig machen können.

 

In diesem Licht betrachtet sei Osama Bin Laden ein sexy Teeny-Idol, das vor seiner Höhle sitzt und mit sanfter Stimme Kriege erklärt. Denn in vielfacher Hinsicht wären laut Broder totalitäre Strukturen anziehender als die schwerfälligen demokratischen Pendants. Es sei einfach eindrucksvoller, eine starke und sichere Führungsperson zu sehen, die Entscheidungen trifft und rasch reagieren kann, als eine träge Masse von Abgeordneten, die sich über Dosenpfand und Gesundheitsreform Monate und Jahre streiten muss, bis endlich ein fauler Kompromiss gefunden werden kann.

 

Die Zustimmung des Publikums zu diesen recht radikalen Ansichten war offensichtlich, und nur einige wenige Gäste verweigerten dem Autor den Applaus. Sie störte insbesondere der Mangel an Strategien zur Lösung all der von Broder aufgezeigten und pointiert erläuterten Probleme. Ein Zuhörer schien sich derart an dieser Tatsache zu reiben, dass er direkt nach seiner Kritik den Saal fluchtartig verließ. Im Anschluss bekannte sich Broder offen dazu, dass er keine Problemlösung anbieten könne und verlegte sich darauf, mögliche Wege zu erläutern.

 

Ein anderer Zuhörer bemängelte, dass Einwanderer sich in Deutschland nicht assimilieren müssten. Der Autor konterte mit einer Kritik am Assimilationsbegriff. Seines Erachtens wäre Integration das, was zählt. Wer sich assimiliere, gebe sich auf, und das dürfe in einer Gesellschaft nicht passieren. Schließlich rief Broder noch ein Bild auf den Plan, das noch ein letztes Mal für Amüsement sorgte. Er schilderte die Möglichkeit, dass die westliche Welt demnächst statt eines teuren und komplizierten Militärapparates schlicht einen Anrufbeantworter mit dem Text „Wir kapitulieren“ installieren und sich so prophylaktisch von der Weltbühne verabschieden könne – mit all ihren Schwierigkeiten wie Assimilation, Islam und Terror.

 

 

25. MÄRZ 2007

„SEI GEGRÜSST UND LEBE“, Lesung mit Musik

Die beiden wohl bedeutendsten Schriftstellerinnen der DDR, Christa Wolf und Brigitte Reimann, verband eine enge Freundschaft. Dies veranschaulichten die Schauspielerinnen Barbara Hütten und Maja Chrenko eindrucksvoll im Rahmen einer Lesung von Briefen, die sich Reimann und Wolf über viele Jahre hinweg geschrieben hatten. Im voll besetzten Stasi-Kinosaal ließen Hütten und Chrenko, ihrerseits seit langem gut befreundet, diese tiefe Verbindung zwischen zwei Frauen lebendig werden. So konnte das Publikum teilhaben an den Gefühlen der Schriftstellerinnen, an ihren alltäglichen Sorgen und Freuden sowie an ihrer Sicht auf das Leben im Allgemeinen und den Verhältnissen in der DDR im Besonderen.

 

Es war das Schreiben, das diese beiden Frauen, die so unterschiedlich lebten, verband. Während Barbara Hütten in die Rolle der Christa Wolf schlüpfte, der Älteren und Etablierten, übernahm Maja Chrenko den Part der Brigitte Reimann, die ihren unsteten Lebenswandel abwechselnd genoss und darunter litt, und deren letzte Lebensjahre vom Kampf gegen den Krebs geprägt waren. Der Briefwechsel offenbarte ein großes Themenspektrum. Die Schriftstellerinnen tauschten sich nicht nur über ihre Arbeit aus, über den Ärger mit einem Verlag, Reaktionen auf ihre Bücher oder Schreibblockaden, sondern auch über Privates sowie über Politisches. Hin und wieder zeigte sich in den Briefen Christa Wolfs, mit welcher Distanz die einstige Kandidatin des ZK der SED ihren Genossen gegenüberstand. So beschreibt sie in einem ihrer Briefe eine ZK-Besprechung aus dem Jahr 1972 als „überflüssig“ und „totlangweilig“. Sie ärgert sich, von Brigittes Krankenbett zu dieser Besprechung gegangen zu sein, und fragt sich: „Warum macht man das bloß, programmierter Esel, der man ist!?“

 

Reimann schien sich oft nach einem harmonischen Familienleben ähnlich dem der zweifachen Mutter Christa Wolf gesehnt zu haben. Andererseits spricht sie in ihren Briefen, in denen sie ihrer Freundin Christa auch über ihre Liebschaften berichtet, schon bald von „Freiheitsberaubung“, als eine Beziehung einmal über längere Zeit andauert. Die Frauen teilen Freude und Leid miteinander, wobei es vor allem Christa Wolf war, die ihrer oft traurigen und später durch die Krankheit stark geschwächten Freundin immer wieder Kraft zu geben versuchte, weiter zu leben und zu schreiben. Sie tauschten sich aus über ihre Ängste, Träume und Sehnsüchte, über die Kehrseite des Erfolgs, den Zustand der Welt und die Härten des Lebens. Das Schreiben war, so stellen sie selbst fest, für sie vor allem auch ein Ventil für ihre Unzufriedenheit. So riet Christa Wolf Brigitte Reimann besonders dann, wenn diese wieder einmal besonders traurig war, an ihrem Buch weiter zu schreiben, denn: „Schreiben ist das Einzige, was hilft!“

 

In den letzten Jahren ihrs Lebens plagten Brigitte Reimann schwere Rückenschmerzen. Durch Zufall erfuhr sie, dass ihr angeblicher Bandscheibenschaden tatsächlich Krebs im Rückenwirbel war. Verschiedene Operationen und Krankenhausaufenthalte machten ihr schwer zu schaffen. Doch in dieser Zeit zeigte sich plötzlich der eiserne Lebenswille der Frau, die zuvor so häufig mit dem Leben gehadert hatte: „Ich will leben“, schrieb sie, „wenn auch unter verrückten Schmerzen, aber auf der Welt sein!“ Christa Wolf versuchte, ihrer Freundin so gut es ging zur Seite zu stehen und bewunderte, wie die es der Krankheit zu keinem Zeitpunkt erlaubte, völlig Macht über sie zu gewinnen. Brigitte Reimann starb im Jahr 1973. Fünf Tage vor ihrem Tod hatte Christa Wolf sie zum letzten Mal besucht. Die Lesung endete mit einem Brief Wolfs an die Eltern von Brigitte Reimann, in dem sie diesen versichert, mit ihrer Trauer nicht allein zu sein.

 

 

25. MÄRZ 2007

„...DASS DIESES LAGER IM PRINZIP DIE AUFGABE EINER SCHOCKTHERAPIE HAT.“, Buchvorstellung und Diskussion

Dem Thema Heimerziehung in der DDR widmete sich die letzte Veranstaltung des Museums in der „Runden Ecke“ im Rahmen von „Leipzig liest“. Sie richtete das Augenmerk auf die Erziehungseinrichtungen in dem sozialistischen Staat, in denen nicht selten Zwang, Disziplinierung und Gewalt an der Tagesordnung waren. Zu Gast waren Juliane Thieme, Mitarbeiterin der Erinnerungs- und Begegnungsstätte im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, und Dr. Verena Zimmermann. Letztere stellte ihren Beitrag mit dem Titel „…dass dieses Lager im Prinzip die Aufgabe einer Schocktherapie hat“ vor, der im Band 1 der Schriftenreihe „Auf Biegen und Brechen. Geschlossene Heimunterbringung im Kontext sozialistischer Erziehung in der DDR“ enthalten ist. Diese Schriftenreihe stellt sowohl aktuelle Forschungsergebnisse als auch Einzelschicksale vor.

 

Zimmermann las aus ihrem Beitrag, der einerseits die in den sechziger und siebziger Jahren geführte juristische Diskussion um die Rechtmäßigkeit kurzzeitiger Strafmaßnahmen ohne Gerichtsverhandlung für Jugendliche behandelt und andererseits die Praxis im Arbeits- und Erziehungslager in Rüdersdorf darstellt. Nach Rüdersdorf kamen Jugendliche meist im Alter von 16 bis 17 Jahren, die wegen „Rowditums“ oder „Arbeitsbummelantentums“ aufgefallen waren. Die Jugendlichen wurden häufig einfach von der Volkspolizei auf der Straße aufgegriffen und in das Lager gebracht, wo strenge Ordnung und Disziplin herrschten und sie im Steinbruch arbeiten oder die Baracken reinigen mussten. Manchmal kam es sogar zu einer vorsorglichen Unterbringung von Jugendlichen in Rüdersdorf, etwa wenn man von diesen „rowdihaftes Verhalten“ erwartete. Dies meinte nicht unbedingt Randale und Vandalismus. Häufig genügte es bereits, in einer kleinen Gruppe mit einem Kofferradio an einer Straßenecke zu stehen und Beat-Musik zu hören.

 

Der Kurzzeit-Arrest hatte gar nicht den Anspruch, einen erzieherischen Effekt zu erzielen. Das Ziel war lediglich, die Jugendlichen mittels haftähnlicher Bedingungen einer Art Schocktherapie zu unterziehen – Zwang und Unterdrückung der Individualität galten dabei als legitime Mittel – und somit die Bereitschaft für eine Umerziehung herzustellen. Außerdem setzte man auf den Abschreckungseffekt. 1976/77 wurde das seit 1966 bestehende Arbeits- und Erziehungslager für Jugendliche in Rüdersdorf wegen erneuter rechtlicher Bedenken seitens der Justiz endgültig aufgelöst.

 

Im Anschluss an die Lesung wurde rege diskutiert. Anwesend waren Zeitzeugen, die Rüdersdorf aus eigener Erfahrung kannten und von den Verhältnissen im Lager berichteten. Es kam zur Sprache, dass in einigen Fällen Eltern ihre eigenen Kinder sogar freiwillig in ein Erziehungslager bringen ließen, und es wurde noch einmal betont, welch harmlose Verhaltensweisen bereits als „Rowditum“ klassifiziert werden konnten. Sie führten zu einem Kurzzeitarrest, der einem Gefängnisaufenthalt glich, obwohl in diesen Fällen weder Anklage erhoben noch eine Gerichtsverhandlung durchgeführt worden war.

 

 

 

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AUS DER ARBEIT DER GEDENKSTÄTTE

 

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SONDERAUSSTELLUNG „ERSCHOSSEN IN MOSKAU…“

Unmittelbar nachdem die Alliierten 1945 Deutschland besetzt hatten, verurteilte das sowjetische Militärtribunal in der Sowjetischen Besatzungszone zahlreiche Deutsche zu langjährigen Haftstrafen, aber auch zum Tode. Grund war vor allem ihre Verstrickung in das NS-Regime. Zu den Betroffenen gehörten auch viele Jugendliche, die wegen einer angeblichen Betätigung als „Werwolf“ verurteilt wurden. Von Mai 1947 bis Februar 1950 galt in der Sowjetunion ein Moratorium zur Aussetzung der Todesstrafe, weswegen auch in der SBZ vorübergehend keine Todesurteile verhängt wurden.

 

Zwischen 1950 und 1953 verhafteten östliche Geheimdienste in der gerade gegründeten DDR annähernd 1.000 Deutsche. Sowjetische Militärgerichte verurteilten sie und unter dem Vorwurf der Spionage und antisowjetischern Tätigkeit zum Tode. Die Betroffenen wurden nach Moskau verschleppt und im Keller des Gefängnisses Butyrka erschossen. Ihre Asche wurde anonym in Massengräbern auf dem Friedhof Donskoje verscharrt. Über Jahrzehnte blieb ihr Schicksal unbekannt.

 

Seit 2004 erforschen Historiker der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der Rechercheagentur Facts & Files diese Verbrechen. Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hat das internationale Forschungsprojekt initiiert und gefördert. Die Ergebnisse wurden in dem 2005 erschienenen Buch „Erschossen in Moskau…“ und in der gleichnamigen Ausstellung der Öffentlichkeit vorgestellt.

 

Viele Hinterbliebene haben erst durch das Projekt Informationen über das Schicksal der vermissten Angehörigen erhalten. Die Forschungen haben darüber hinaus ein besonders drastisches Beispiel kommunistischer Repressionen offen gelegt, über das in der Öffentlichkeit bis dato fast nichts bekannt war.

 

Bis zum 28. April 2007 ist die Sonderausstellung im ehemaligen Stasi-Kinosaal in der Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ zu sehen. Besichtigt werden kann sie täglich zwischen 10.00 und 18.00 Uhr; der Eintritt ist frei. Gruppen bieten wir auf Anfrage auch eine kurze Einführung in die Exposition.

 

Die Ausstellung wird von einem Veranstaltungsprogramm begleitet. Hinweise dazu finden Sie im Punkt „Wir laden ein“ in diesem Newsletter.

 

 

HAUPTAMTLICHE LEITUNG FÜR GEDENKSTÄTTE

Das Bürgerkomitee hat seit Anfang März einen hauptamtlichen Geschäftsführer. Tobias Hollitzer, der als Mitglied des Vorstandes bereits in den vergangenen Jahren ehrenamtlich mit der Geschäftsführung beauftragt gewesen war, übernahm dieses Amt.

 

Um das erreichte Niveau langfristig halten zu können, benötigte die Einrichtung einen hauptamtlichen Leiter, der die fachlichen Aufgaben in den verschiedenen Teilbereichen (Ausstellung, Öffentlichkeitsarbeit, Veranstaltungen, Sammlung, Stasi-Bunker Machern, etc), die Beantragung von Fördermitteln und die Betreuung der Projekte koordiniert.

 

Bereits 1999 hatte der Vorstand des Bürgerkomitees begonnen, die Arbeit der vom Verein getragenen Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ mit dem Museum im Stasi-Bunker zu professionalisieren und auf sichere finanzielle Füße zu stellen. Unterstützt von der Stadt Leipzig, dem Freistaat Sachsen und der Bundesrepublik Deutschland ist es in einem mehrjährigen Prozess gelungen, den Personalbestand von einer auf inzwischen acht hauptamtliche Mitarbeiter zu erhöhen. Die Arbeit konnte derart profiliert werden, dass das Bürgerkomitee als wichtige Stimme im Aufarbeitungsdiskurs und als professioneller Träger einer Gedenkstätte bundesweit wahrgenommen wird. Die Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ mit dem Museum im Stasi-Bunker verfügt über eine zwischenzeitlich weitgehend wissenschaftlich inventarisierte Sammlung, die 40.000 oft einmalige Stasi-Objekte enthält. Fast 80.000 Menschen besuchten die Gedenkstätte und ihre vielfältigen Veranstaltungen allein im vergangenen Jahr.

 

Vom Wechsel Tobias Hollitzers in die Leitung der Gedenkstätte verspricht sich der Vorstand, die wichtigen Aufgaben der Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur in Leipzig künftig noch professioneller und wirkungsvoller erledigen zu können.

 

 

 

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AUS DEM GÄSTEBUCH

 

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Mehrere tausend Menschen besuchen monatlich die Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ mit dem Museum im Stasi-Bunker. Manche leben in Leipzig und kommen – häufig mit Gästen – immer wieder in die Ausstellung. Andere kommen von weit her zu Besuch in die Stadt und wollen hier sehen, wo und wie vormals das berüchtigte Ministerium für Staatssicherheit arbeitete.

 

Viele unserer Besucher hinterlassen eine Notiz im Gästebuch und schreiben hier ihre Eindrücke nieder, die sie in der Gedenkstätte gesammelt haben. Unter dieser Rubrik wollen wir monatlich einige dieser Einträge an Sie weitergeben.

 

„Der Lauf durch die Geschichte ist hoch interessant und ich schnupperte DDR-Luft. Dankbar wurde ich beim Lesen und sehen

1. für die Friedliche Revolution

2. für die „Zufälle“ der Geschichte (wie z.B. mein Geburtsort in der ehemaligen Amerikanischen Zone; die Aussage über die Reisefreiheit und der Fall der Mauer)

3. für ihr Engagement, die Aufarbeitung und das Nichtvergessen im Sinne einer Erinnerung, um daraus für eine demokratische Zukunft zu lernen.

4. für alle Menschen, die ich seit dem 17.11.1989 im Gebiet der ehemaligen DDR bereits kennen lernen durfte.“

Eintrag eines Besuchers vom 01.03.2007

 

„Sehr interessante Ausstellung. Ich hoffe nur, dass es immer noch mehr Deutsche gibt, die diese Ausstellung besuchen. Auf diese Weise werden sie – hoffentlich – verstehen, dass Mut zu zeigen kein Nachteil ist.“

Eintrag eines Besuchers vom 03.03.2007

 

„Beeindruckend und erdrückend zugleich! Es ist „fast“ unglaublich, mit wie viel Energie Menschen sich mit der Bespitzelung beschäftigten. Gottlob hat dies ein Ende (leider nur in der ehemaligen DDR…)“

Eintrag eines Besuchers vom 13.03.2007

 

„Als junger, freilebender Mensch mit allen Möglichkeiten des Reisens und freien Entfaltens kaum zu ertragen und zu verstehen. Aufgewachsen im Ostteil Deutschlands frage ich mich, wie meine Familie so glücklich leben konnte und sich ein Leben jenseits der Kontrolle aufbauen konnte. Sehr schöne Ausstellung und zum Glück gab es ein Ende.“

Eintrag eines Besuchers aus Rostock vom 14.03.2007

 

„Das Ausmaß von Kontrolle durch die Stasi war mir nie so gegenwärtig.“

Eintrag eines Besuchers vom 17.03.2007

 

„Aufgewachsen im DDR-Bezirk Neubrandenburg, aber mittlerweile seit 1984 in Baden-Würtemberg lebend, empfinde ich auch nach so langer Zeit eine tiefe Beklemmung beim Anblick der Hinterlassenschaften des MfS, das ich noch zu DDR-Zeiten erlebt habe. Wie gut, dass unser Land seit 17 Jahren vereint ist und die DDR mitsamt ihrem Terror- und Unterdrückungsapparat der Vergangenheit angehört. Dank dafür gebührt u.a. den mutigen Menschen von Leipzig. Dank auch an die Museumsverantwortlichen, die helfen, dass das wahre Gesicht der ehemaligen DDR nicht in einem „Ostalgie“-Gefühl untergeht.“

Eintrag eines Besuchers aus Heidelberg am 21.03.2007

 


 



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Träger der Gedenkstätte
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