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Newsletter Januar 2010

 

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

 

„Wir sind das Volk!“ heißt es seit dem 4. Januar wieder in der „Runden Ecke“, als die Künstlerin Katrin Hattenhauer als Akteurin des Friedlichen Umbruchs 1989/90 in Leipzig von ihrem damaligen Engagement berichtete. Damit setzt das Bürgerkomitee Leipzig die sehr erfolgreichen Montagsgespräche im zweiten Jahr des Doppeljubiläums fort. Ein ausführliches Resümee wird es dazu in unserem nächsten Newsletter geben.

 

Auch 2010 wird wieder ein Jubiläumsjahr werden: Die Jahrestage der ersten freien Wahlen in der DDR, das 20-jährige Bestehen der Dauerausstellung „Stasi – Macht und Banalität“, das wir im Sommer mit einem großen Museumsfest begehen werden und natürlich die Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit stehen auf dem Programm.

 

Wir wünschen Ihnen für das neue Jahr alles Gute, die Gesundheit und freuen uns, Sie 2010 wieder bei uns begrüßen zu können.

 

Ihr Bürgerkomitee Leipzig

 

 

 

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INHALT

Wir laden ein

Aus der Arbeit der Gedenkstätte

Rückblick

Aus dem Gästebuch

 

 

 

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AUS DER ARBEIT DER GEDENKSTÄTTE

 

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2009: BESUCHERREKORD IM MUSEUM IN DER „RUNDEN ECKE“

Als am 9. Oktober während des Lichtfestes innerhalb weniger Stunden tausende von Menschen in die „Runde Ecke“ strömten, waren bereits alle bisherigen Besucherrekorde gebrochen. Konnte die Gedenkstätte im Jahr 2008 den millionsten Besucher begrüßen, so war das Jubiläumsjahr der bisherige Höhepunkt bei den gesamten Besucherzahlen. Besuchten 2008 etwa 100 000 Menschen die „Runde Ecke“, waren es 2009 etwa 125.000.

Das deutlich gestiegene mediale Interesse durch den Jahrestag der Friedlichen Revolution, aber auch eine kontinuierliche Gedenkstättenarbeit machten viele neue Besucher auf das Haus aufmerksam.

Vor allem die Dauerausstellung „Stasi – Macht und Banalität“ war wesentlich besser besucht, ebenso der Stadtrundgang „Auf den Spuren der Friedlichen Revolution“.

2010 hofft das Bürgerkomitee den Rekord halten zu können, nicht zuletzt auch durch die Sonderausstellung „Leipzig auf dem Weg zur Friedlichen Revolution“. Und auch 2010 freuen wir uns wieder über den Besucheransturm am 9. Oktober.

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RÜCKBLICK

 

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1.DEZEMBER 2009, 18:00 UHR, EHEMALIGER STASI-KINOSAAL

VORTRÄGE UND PODIUMSDISKUSSION – WIRKSAMKEIT UND NACHHALTIGKEIT DER RUNDEN TISCHE DER STADT UND DES BEZIRKES LEIPZIG 1989/90

Der Drang der Bürger der DDR nach Selbstbestimmung und Demokratie mündete 1989/90 in der Friedlichen Revolution. Als erste vorparlamentarische Instanz nach 40 Jahren Diktatur etablierten sich in Berlin, den Bezirkshauptstädten und in den Kommunen die Runden Tische, die erstmals wirklich repräsentativ für das Volk der DDR standen.

Fast 20 Jahre nach dem sich auch in Leipzig die Mitglieder des Runden Tisches zusammensetzten, um den Aufbau der Demokratie zu verhandeln, lud das Bürgerkomitee Leipzig in Kooperation mit dem Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung Dresden ein, das Geleistete in Leipzig und auf überregionaler Ebene zu resümieren. Den beiden Vorträgen von Dr. Francesca Weil, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hannah-Arendt-Institut und Cornelia Liebold von der Gedenkstätte Bautzen folgte eine Podiumsdiskussion unter der Moderation von Professor Günther Heydemann, dem Direktor der Hannah-Arendt-Institutes. Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur förderte die Veranstaltung.

 

Dr. Francesca Weil referierte über die besondere Rolle der Runden Tische, in deren Mittelpunkt die Gleichwertigkeit aller dort vertretenen Gruppen und Parteien steht. 1989/90 entstanden sie in nahezu allen osteuropäischen Ländern. In der DDR bildeten sie sich in jedem der 14 Bezirke, zentral in Berlin sowie in vielen Städten und Gemeinden. An den Runden Tischen selbst standen sich sehr unterschiedliche Meinungen und Interessenvertretungen gegenüber. Trotzdem spielten sie eine bis dato einmalige Rolle bezüglich der Krisenbewältigung in Ostdeutschland.

 

Nach einer ersten Vorveranstaltung am 1.12.1989, trat am 2. Januar 1990 der erste Runde Tisch des Bezirkes Leipzig mit Vertretern aller politischen Spektren zusammen. Deutlich gemacht wurde nur, dass die SED/PDS durch Doppelmitgliedschaften keine Stimmenmehrheit haben dürfe. Als vordergründige Aufgabenfelder nannte Francesca Weil die Lösung bezirksspezifischer Probleme, wie das Thema Tagebau Cospuden, die Zusammenarbeit mit den Bürgerkomitees und die Vorbereitung der ersten freien Wahlen. Da die SED vehement versuchte ihre Macht an den Runden Tischen zu erhalten, stellten sich Themen wie die MfS-Auflösung zunächst als sehr schleppend dar, was aber, als es geschafft war, als größte Leistung des Runden Tisch des Bezirkes bezeichnet werden kann. Eine Besonderheit in Leipzig war auch die bewusste Einbindung der Presse, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu behalten und relevante Themen, wie die Vernichtung der Akten zu diskutieren.

 

Im Anschluss referierte Cornelia Liebold zur Wirkungsweise des Runden Tisches der Stadt Leipzig als Übergangsorgan und warf gleich zu Beginn folgende Fragen auf: „War der Runde Tisch ein Ort der Konsensbildung oder ein Ort der „Sandkastenspiele“ ohne Kontrolle und Steuerung? Um was für ein Gremium handelte es sich? Eines mit der einfachsten Steuerungsmöglichkeit seiner Zeit oder eines, das von der Geschwindigkeit der Entwicklung überholt wurde?“ „Oder war es nur ein Rekrutierungspool für die kommende Leipziger Kommunalpolitik?“ Heute gilt aber vor allem: Was hat Bestand?

 

Was an den Runden Tischen in den Bezirken, Städten und Gemeinden erreicht wurde, gerät heute mehr und mehr in Vergessenheit, da sich die Aufmerksamkeit eher auf Berlin zentriert. Startdatum in der Stadt Leipzig war der 3. Januar 1990 mit den Vertretern der Kirche Friedrich Magirius und Hans-Jürgen Sievers als Moderatoren und unter dem Selbstverständnis, dass der Runde Tisch keinerlei parlamentarische Macht habe oder Regierungsfunktion ausübe. Kurz darauf löste sich jedoch die Leipziger Stadtverordnentenversammlung selbst auf, da die Stadträte durch die gefälschten Kommunalwahlen vom Mai 1989 keinerlei Legitimität hatten. Die so entstandene Lücke füllten die Vertreter des Runden Tisches der Stadt Leipzig unter Aufgabe ihrer ursprünglichen Prämissen und fungierte ab Ende Januar als Stadtparlament. Viele der Aktivisten der Runden Tische sind so über die Zeit hinweg Teil der kommunalen Funktionselite geworden.

 

Mit der abschließenden Frage: „Was ist geblieben?“ leitete Cornelia Liebold zur Diskussionsrunde über, bei der Dr. Hinrich Lehmann-Grube, Friedrich Magirius, Dr. Rita Selitrenny und Michael Weber, die 1990 am Runden Tisch saßen, sowie Tobias Hollitzer als Vertreter des Bürgerkomitees, anwesend waren.

 

Auf die Frage hin, wie sie denn an den Runden Tisch gekommen sind und wie die ersten Eindrücke waren, ähnelten sich die Antworten. Einige waren in neuen demokratischen Gruppen aktiv und sollten diese nun vertreten. Die Funktion von Pfarrern als Moderatoren begründete sich daraus, dass die einzig die Kirche in der DDR demokratischen Strukturen aufwies. Auch wenn sie sich nicht als solches verstanden, herrschte eine allgemeine Stimmung, „wie als säße hier ein demokratisch gewähltes, legitimiertes Organ.“ Da die SED mit am Tisch saß und selbst den Dialog suchte, stellte sich die Frage wie sie – als andere Seite – agierte. Michael Weber empfand das Miteinander beziehungsweise Gegeneinander als sehr prozesshaft: „Die alte Seite“ (SED) handelte aus einem opportunistischen Willen heraus. Sie wollte den Kurs und die Agenda bestimmen und ihre eigene, bereits schwindende Macht sichern. Dementsprechend drückte sich der Widerstand nur bei Banalitäten, wie die Vergabe von Büroräumen, aus. Der Prozess der „Loswerdung des MfS“ entpuppte sich als etwas zäher. Die Rolle, die dabei der Runde Tisch spielte, so Tobias Hollitzer, war eine sehr wichtige, da Vertreter aller Seiten bis hin zur Volkspolizei und Regierungsbeauftragten eingebunden waren und der Runde Tisch mit Nachdruck auf die kontrollierte Auflösung drängte.

 

„Als die Arbeit immer mehr Gestalt annahm und man sich schon im Übergang zur kommunalen Selbstbestimmung befand, dachten Sie, Ihre Arbeit sei getan?“, so eine der letzten Fragen Heydemanns. Über die Motivation, weiter zu machen, waren sich die Anwesenden einig. Immerhin hatte der Runde Tisch der Stadt Leipzig trotz der Einschränkungen ein bemerkenswertes Gewicht besessen, gerade weil die Vertreter politische Verantwortung übernahmen. Die Versorgung der Bevölkerung und Regelung der Wirtschaft mit der Aufrechterhaltung der Infrastruktur, sehen die Beteiligten heute nach wie vor als eine große Leistung an. 1990 war „nicht entscheidend, wer regiert, sondern wie gewirkt wird“. So fanden und finden sich viele, die sich durch ihr Engagement an den Runden Tischen verdient machten, im Landtag und Bundestag wieder, eben weil sie damals wie heute ein „größeres Interesse am Gemeinwohl haben“.

 

 

4. DEZEMBER 2009, 19.00 UHR, EHEMALIGER STASI KINOSAAL

„HEUTE VOR 20 JAHREN: BESETZUNG DER LEIPZIGER STASI-ZENTRALE“ - GESPRÄCH MIT AKTEUREN VON DAMALS

Am 9. Oktober umrundeten Demonstranten erstmals bei der Montagsdemonstration friedlich den Leipziger Stadtring, einen Monat Später fiel die Mauer in Berlin und am 4. Dezember gelang es den Bürgern von Erfurt, als erste der DDR, die dortige Bezirksverwaltung des MfS zu besetzen; am Abend desselben Tages folgte Leipzig. Anlässlich des 20. Jahrestages der Besetzung lud das Bürgerkomitee in die „Runde Ecke“ ein, um sich gemeinsam mit den Akteuren über deren Beweggründe, deren Motivation und die Erfolge vom 4. Dezember 1989 zu unterhalten.

 

Eröffnet wurde die Veranstaltung von Tobias Hollitzer, dem Leiter der sich heute in der „Runden Ecke“ befindenden Gedenkstätte. In seinem Vortrag stellte er nochmals die Ereignisse des Herbstes ’89 dar, welche in den Beschluss zur Vernichtung der Akten, Mitte November, mündete. Die Aktenvernichtung war dann auch der Anlass, weswegen die Leipziger Bezirksverwaltung am 4. Dezember friedlich besetzt wurde. Das Vorgehen der Beteiligten und die Abläufe wurden detailliert rekonstruiert. Im Anschluss übernahm Michael Beleites, der Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen das Wort. Er betonte, dass man vor 20 Jahren auch von außen die Augen auf Leipzig gerichtet hatte. Doch ging er vor allem auf die aktuelle Debatte ein, dass die Besetzung der Stasigebäude von der Staatssicherheit und der SED selbst inszeniert worden wäre. Hierbei machte er deutlich, dass die Debatte keineswegs neu sei, sondern schon vor zwei Jahren vom ehemaligen Dresdner Oberbürgermeister Berghofer angesprochen wurde. Trotzdem war es ihm wichtig zu betonen, dass die Initiative von den Bürgern ausging, und die Bürgerkomitees auch wesentliche Impulse gaben, die SED zu kontrollieren. Dies wurde aber leider nicht durchgesetzt, da man sich zu sehr auf die Stasi fokussierte. Die daraus resultierende Unterstellung, die Bürgerkomitees hätten sich von der Staatssicherheit instrumentalisieren lassen, wies Beleites aber entschieden zurück.

 

Nach einigen Filmsequenzen über die Besetzung der „Runden Ecke“, leitete Reinhard Bohse die Podiumsdiskussion ein. Auf die Frage , wie sie den 4. Dezember 1989 erlebten, antwortete zuerst einer der damaligen Sprecher des Bürgerkomitees Christian Scheibler. Für ihn war der Tag der 14. Montagsdemonstration ein „prägender“. Als Mitglied des „Demokratischen Aufbruchs“ war er als Sprecher auf dem Augustusplatz, als ihn die Nachricht erreichte, dass in Erfurt die Bezirksverwaltung besetzt sei. Kurz entschlossen ging er gemeinsam mit einer Gruppe von Bürgerrechtlern und einigen Journalisten zur „Runden Ecke“ und forderte Einlass.

 

Jürgen Neumann war damals bei der Volkspolizei beschäftigt und wurde erst am 5. Dezember in die Stasizentrale beordert. „Es war nicht ohne“, meint er heute. Der Militärstaatsanwalt Walter Köcher war ebenfalls am 4. Dezember nicht dabei, wurde aber einen Tag später in die „Runde Ecke“ geholt – das erste Mal überhaupt. Hinzufügen musste Köcher, das er nicht als Partner der Staatssicherheit in die Bezirksverwaltung kam, sondern aus dem Willen heraus den Bürgern zu helfen. Er sah es als seine Pflicht an in die „Runde Ecke“ zu gehen um Strafanzeigen aufzunehmen und natürlich wegen der Aktenvernichtung. Tobias Hollitzer bezeichnete sich am 4. Dezember zunächst nur als „normaler Demonstrant“. Aufgrund der Megaphonansprachen stand er bis 1 Uhr nachts zusammen mit anderen Demonstranten am Stahltor des Gebäudekomplexes und forderte Einlass. Nach Mitternacht wurden sie in den Speisesaal vorgelassen und forderten die Besichtigung des Stasi-Gebäudes in der Friedrich-Ebert-Straße, dem damaligen Sitz der Kreisdienststelle Leipzig-Stadt, das sie dann bis in die Morgenstunden versiegelten.

 

Auf die Frage, woher die Beteiligten die Motivation für dieses gewagt Unterfangen nahmen, überschneiden sich die Antworten. Sehr stark kristallisiert sich das „Verlangen nach Handeln“ heraus, welches so groß war, dass sich auch “unpolitische Menschen motiviert fühlten“, so beschrieb es Thomas Jahn, einer der Erstbesetzer der „Runden Ecke“. Scheibler begründete dies durch die eigenen, persönlichen Unrechtserfahrungen. Deswegen war für ihn Staatsanwalt Köcher auch so wichtig, da er eine strukturierte Ebene und rechtliche Absicherung bot. Für Tobias Hollitzer war es in diesen Tagen sehr bewegend mit eigenen Augen zu sehen, was die Stasi tat. Alles Bisherige kannte man nur aus Gerüchten. Zwar stand er der „Sicherheitspartnerschaft“ mit Staatsanwaltschaft und Volkspolizei eher skeptisch gegenüber, jedoch war er auch froh darüber beispielsweise angesichts des Waffenarsenals, das bei nicht friedlicher Besetzung eine enorme Gefahr dargestellt hätte.

 

Zur Schlussrunde kam man nochmals auf die öffentlich diskutierte Debatte zu sprechen. Sowohl Scheibler, als auch Köcher meinten, dass die Besetzung zum einen völlig überraschend kam, zum anderen sicher nicht wohlwollend aufgenommen wurde. Deswegen zeigte sich auch ein gewisses Entsetzen, was die Vorwürfe von SED und Stasi anbelangt. Der ehemals regimetreue Anwalt wurde durch die Erkenntnisse, die sich im Zuge dieser Tage im Jahr 1989 auftaten zum Umdenken gezwungen: „Das kann doch nicht wahr sein, was die Stasi sich erlaubt hat“, sagt er heute. Aber auch Dankbarkeit zeigen alle beteiligten angesichts dessen, was sie am 4. Dezember geleistet haben. Bei Tobias Hollitzer blickt auch dankbar auf die vielen Gleichgesinnten, die sich fanden und er ist stolz, dass es gerade den Leipzigern gelungen ist, aus dem Bauch heraus richtige Entscheidungen zu treffen. Die Bürgerkomitees leisteten gute Arbeit, was zu Folge hatte, dass man die Aufmerksamkeit schließlich auch auf die SED selbst richten konnte.

 

In der anschließenden Publikumsrunde wurde seitens des Vorsitzenden des Bürgerkomitees Dr. Taut deutlich, dass die erfolgreiche, friedliche Besetzung(en) schließlich auch die Weichen für die Zukunft Osteuropas stellte.

 

 

7. DEZEMBER 2009, 19.00 UHR, EHEMALIGER STASI-KINOSAAL

„WIR SIND DAS VOLK!“ – MONTAGSGESPRÄCH IN DER „RUNDEN ECKE“ MIT JOACHIM GAUCK

 

„Dass wir Gehorsam können, dass wir Mord und Totschlag können, das hat uns die Geschichte gezeigt. Aber dass wir Freiheit können, das ist mir so wichtig“, freut sich Joachim Gauck im Rückblick, als die Friedliche Revolution auch in seiner Stadt Rostock sichtbar seinen Lauf nahm. Einen gefüllten Saal mit 150 Menschen fesselte er beim Montagsgespräch, als er sehr emotional und mit einer Liebe zum Detail erzählte, was er vor, während und nach der Friedlichen Revolution durchleben musste aber auch erleben durfte.

 

1940 in Rostock in den zweiten Weltkrieg hineingeboren, erinnert sich Joachim Gauck heute vor allem daran, wie er mit fünf Jahren die Ankunft der Russen erlebte. Sein Vater arbeitete in der Nähe von Rostock als Seemann, wo er auch während des Krieges für die Marine Mathematik und Navigation unterrichtete. Die russische Demontage bot ihm die Möglichkeit im Hafen als Aushilfe zu arbeiten, bis er als ein Bekannter eines Republikflüchtlings festgenommen und vom Schweriner Militärgericht (SMT) zu zwei Mal 25 Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt wurde. Ein Verbrechen lag nicht vor und die Familie ließ man über den Verbleib des Vaters und Ehemannes im Unklaren.

 

Nach der Verurteilung des Vaters musste die fünfköpfige Familie sich selbst versorgen, was ohne die Unterstützung von Verwandten und Freunden nicht möglich gewesen wäre. „Durch diese Erlebnisse wird man schon oppositionell, auch wenn man noch ein Kind ist“, meint Joachim Gauck heute. Dank des Einsatzes seiner Mutter durfte er die Erweiterte Oberschule besuchen, obwohl er weder bei den Pionieren, noch in der FDJ war. Seine Schule bezeichnet er als „mittellagig“ – einige Lehrer waren noch aus der Weimarer Republik, einige, von denen sie öfters „in die Pfanne gehauen wurden“ waren „sehr rot.“ Im Unterricht selbst weigerte sich Gauck die „antifaschistische“ Propaganda zu lernen, da er sich aufgrund seiner bisheriger Erfahrungen mit dem Regime sagte: „Die lügen sowieso!“ Diese Geschichte wurde ihm von Leuten vermittelt, denen er glaubte: von Mitgliedern der Jungen Gemeinde sowie von Anne Franks und Wolfgang Borcherts Büchern.

 

Das Theologiestudium, das er nach dem Abitur begann, bezeichnet er als Verlegenheitslösung – eine Alternative zum nicht zustande gekommenen Germanistikstudium: „In jungen Jahren war ich gewiss nicht mit dem Heiligenschein ausgestattet“. In der Kirche trat er mit interessanten Leuten in Kontakt – mutige Menschen, die er bewunderte. Auch die Tatsache, dass um ihn herum in diesem Staat, alles Lüge ist, brachte für ihn den Bezug zur Transzendenz mit sich. Das, in Kombination mit den philosophischen Aspekten, die ihn sehr interessierten, machten das Studium nicht mehr so abwegig, auch wenn er sich nie vorstellen konnte, Pfarrer zu werden. Sein Dasein als Student bezeichnet Gauck als recht „faul und abgedreht.“ Er hatte mit 19 Jahren geheiratet und früh Kinder bekommen, so dass er während des Studiums viel „rumbummelte“ und dementsprechend spät sein Examen machte. Seine erste Stelle nahm er in einem Neubaugebiet in Rostock an, in dem es keine Kirche gab. Dort war er sozusagen mit Missionsarbeit betraut. Er musste vorsichtig auf die Menschen zugehen, um keine Anzeige wegen Belästigung oder Ähnlichem zu riskieren. Auf diese Zeit schaut Joachim Gauck gern zurück: Er war unabhängig und arbeitete gern und „erfolgreich“, so dass sich aus der Mischung aus Christenlehre in der Nachbargemeinde oder Religionsunterricht bei sich zuhause bald genug Leute hervortaten, um selbst eine eigene, kleine Gemeinde gründen zu können.

 

Da sich Gauck schon früh nicht mehr mit dem sozialistischen System identifizieren konnte, waren die Jahre der Aufstände 1953 und 1956 sehr prägend. Zur Reaktion der sowjetischen Truppen im Prager Frühling meint er: „Jeder der einigermaßen normal war, war doch damals fertig, dass ein sozialistisches Land ein anderes platt macht.“ Demgemäß bezeichnete er sich auch als Antikommunist, was er aber – wie er selbst sagt – nicht von Strauß lernte, sondern vom Kommunismus selbst. Gegen eine differenziertere Sichtweise des Kommunismus wehrte er sich zunächst, vor allem mit Argumenten gegen Honeckers Realsozialismus. Doch durch Umgang mit sehr angenehmen, gebildeten, „guten“ Leuten, mit Grünen und Sozialdemokraten fühlten sich Gauck und seine Freunde schließlich auch tendenziell links: links und antikommunistisch, eine Kombination die Joachim Gauck im Gespräch als „edellinks“ bezeichnete.

 

Als nicht regimetreuer Mensch der Öffentlichkeit sah sich Gauck zwangsläufig mit der Staatssicherheit und ihren Methoden konfrontiert. Persönlich schlimm fand er, dass drei Jugendliche als IM auf ihn angesetzt waren. Dies nahm er auch als Anlass, die Jugendlichen zu bestärken ihren eigenen Weg zu gehen und ´Nein´ zu sagen und sagen zu können.

 

Den Herbst 1989 bezeichnet Joachim Gauck als schönste Zeit seines Lebens. Den sächsischen Mut und die Prägnanz des Satzes „Wir sind das Volk!“ bewundert er noch heute. So haben sich die Bürger gegen „die da oben“ geeinigt, denn die Stasi musste sich denken: Wenn die das Volk sind, wer sind dann wir?“ Und seit diesen Erlebnissen legt er großen Wert darauf, dass vor dem 9. November immer noch der 9. Oktober in Leipzig erwähnt wird. Als sich in Leipzig schon tausende Menschen mobilisierten, steckte im mecklenburgischen Rostock die Revolution noch in den Kinderschuhen. Gauck, „bekannt für seinen großen Mund“, organisierte Mahnwachen für die Leipziger Verhafteten vom 4. September 1989 und mit den Montagsgesprächen vergleichbare Veranstaltungen. Dies hatte zur Folge, dass er von der Gemeindearbeit freigestellt wurde und nur noch Gottesdienste vorbereiten und für das neue Forum arbeiten konnte. Trotz des so erfolgreichen 9. Oktobers in Leipzig konnte man in Rostock keineswegs von so einer Massendynamik sprechen. „Die Angst bindet uns noch“, so beschreibt Gauck die Stimmung am 12. Oktober, obwohl sich in den Kirchen schon mehrere Tausend zu den Donnerstagsveranstaltungen einfanden. Eine Woche später gelang es ihm schließlich die Leute zu mobilisieren, was sich dann zügig zu großen Demonstrationen mit Spruchbändern entwickelte, bei denen Menschen sich trauten, auf sich aufmerksam zu machen.

 

Einer politischen Karriere hat Gauck eigentlich zu keiner Zeit Gedanken geschenkt. Für ihn hat es sich durch seine frühe Politisierung ergeben, dass er zur Kirche kam und zu den Oppositionellen gehörte. Als er Sprecher des Neuen Forums wurde stieg sein Bekanntheitsgrad unvermeidlich. Zwar hat sich Joachim Gauck mit seinem Engagement in Rostock für die Wiedervereinigung sehr verdient gemacht, doch wirklich bekannt geworden ist er schließlich erst als Vorsitzender des Volkskammerausschusses zur Kontrolle der Auflösung des MfS. Als der Wahlkampf in Deutschland anstand, verblasste langsam das Interesse für die Bürgerrechtler, die bis dato so viel leisteten. Gauck ließ sich mehr oder weniger überreden für Bündnis 90 zu kandidieren und wurde schließlich als einziger Mecklenburger für B90 in die Volkskammer gewählt. Auch wenn er es nicht direkt wollte, fand er seine Aufgabe als Vorsitzender des Sonderausschusses zur Auflösung des MfS, der ein Gesetz zur Aktenöffnung erarbeitete. Dieses wurde von der Volkskammer beschlossen, aber nicht in den Wiedervereinigungsvertrag aufgenommen. In der Nacht der Wiedervereinigung wurde er als Sonderbeauftragter der Bundesregierung für die Stasi-Unterlagen zum „Herr der Akten“ berufen. Das immense Interesse der Bevölkerung an der Akteneinsicht ließ die Behörde sehr rasch anwachsen. Große Emotionen im bürokratischen Arbeitsalltag wurden bei Gauck hervorgerufen, wenn Menschen durch die Einsicht Gewissheit bekamen, dass keiner ihrer Nahestehenden als IM tätig war, aber auch, als sich nun Menschen damit konfrontiert sahen, dass sie über Jahre hinweg vom Ehepartner oder besten Freund ausspioniert wurden. Angesichts der Fülle an Geschehnissen, die sich Joachim Gauck in jedem Detail offenbarten, entwickelte er einen großen Respekt gegenüber den vielen mutigen und treuen Menschen, die in „dieser Zeit, in der es so viel Verrat“ gab, standhaft blieben und sich dem System nicht beugten. Andererseits kann er vielen auch Verständnis entgegen bringen, die es nicht fertig brachten, sich zu widersetzen, die kapitulierten unter dem Druck, den die Staatssicherheit gegen sie aufbaute.

 

Die Frage seitens Tobias Hollitzers, ob denn die Fokussierung auf die Stasi mit der damit einhergehenden Vernachlässigung der SED ein Fehler war, kann Joachim Gauck nur bejahen. Den Grund hierfür sieht er in der Gutmütigkeit, da man in Deutschland nicht wie in Tschechien alle ehemaligen Kommunisten aus dem öffentlichen Dienst herausdrängen wollte. Die Anzahl von über 2,3 Millionen SED-Mitgliedern zeigt, dass eine Vielzahl nicht aus Überzeugung, sondern aus reinem Opportunismus eintrat. Und da bekannt war, wer aus welchen Gründen in der Partei war, entwickelte sich „dieser Milde Blick auf die Kommunisten“, dem man entgegen hätte wirken können, wenn man zumindest die hohe Parteiriege mit der Stasi gleichstellt hätte, meint Gauck. Im Vergleich mit den anderen ehemaligen Ostblockstaaten hätte sich Deutschland mit der Problematik des jeweils alten Regimes besser geschlagen. Mit dem Aufkeimen der 68er-Bewegung ist man deutschlandweit auf den Nenner gekommen, dass man eine Schlussstrichpolitik, wie unter Adenauer nach dem zweiten Weltkrieg, nicht wiederholen sollte. Auf diese Erfahrung, die Deutschland (leider) machte, berief man sich nach der Wiedervereinigung. Andere ehemalige Ostblock-Staaten schlugen eine ähnliche Richtung ein wie die Bundesrepublik nach dem Krieg. Inzwischen haben jedoch alle eine dem deutschen Vorbild ähnliche Aktenbehörde geschaffen. Denn mit der zunehmenden Entwicklung der Zivilgesellschaft wird sie zunehmend selbstkritischer und akzeptiert, dass eben auch Gefühle wie Schuld, Scham und Reue zur Aufarbeitung dazugehören (müssen).

 

 

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AUS DEM GÄSTEBUCH

 

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Mehrere tausend Menschen besuchen monatlich die Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ mit dem Museum im Stasi-Bunker. Manche leben in Leipzig und kommen – häufig mit Gästen – immer wieder in die Ausstellung. Andere kommen von weit her zu Besuch in die Stadt und wollen hier sehen, wo und wie vormals das berüchtigte Ministerium für Staatssicherheit arbeitete.

 

Viele unserer Besucher hinterlassen eine Notiz im Gästebuch und schreiben hier ihre Eindrücke nieder, die sie in der Gedenkstätte gesammelt haben. Unter dieser Rubrik wollen wir monatlich einige dieser Einträge an Sie weitergeben.

 

Es ist wichtig, dass wir nicht vergessen. Danke (Besucher aus Hamburg, 3.12.09)

 

Gott sei Dank, diese Zeit ist vorbei! Danke für die Ausstellung, danke an die Demonstranten in Leipzig! (Besucherin 07.12.09)

 

Sollte unbedingt für die Nachwelt erhalten bleiben! (Familie aus Frankfurt a.M. 12.12.09)

 

Way better than any spy museum ( Calgary, Canada 29.12.09)

 

Es macht mich traurig, dieses Museum. Hab auch „das Leben der Anderen“ gesehen. Wie kann mann zurückverlangen nach so einer Zeit? ( Besucherin aus den Niederlanden 22.12.09)

 

 


 



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Träger der Gedenkstätte
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