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  Newsletter Juni 2010

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

 

am 17. Juni 2010 jährt sich zum 57. Mal der blutig niedergeschlagene Volksaufstand, mit dem der Versuch großer Teile der ostdeutschen Bevölkerung, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und die deutsche Einheit durchzusetzen, scheiterte. Das Bürgerkomitee Leipzig wird an diesem Tag zu einer Gedenkfeier in der heutigen Straße-des-17.-Juni einladen. Nähere Informationen erhalten Sie in der Rubrik „Wir laden ein“.

 

Einladen möchten wir Sie außerdem ganz herzlich am 7. Juni 2010, um 19.00 Uhr, zu unserem 18. Montagsgespräch in der „Runden Ecke“ mit dem ehemaligen Präsidenten des Landgerichtes Martin Burkert, der nach der Friedlichen Revolution den Aufbauprozess einer unabhängigen begleitete und sich für die Opfer der SED-Diktatur einsetzte. Am 9. Juni, um 19.00 Uhr wird der Autor und Schriftsteller Thomas Renker in einer Lesung davon erzählen, wie er zum Opfer des SED-Regimes wurde.

 

Heute und am 5. Juni wird der Kölner Künstler Gunter Demnig wieder in Leipzig sein, um im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus Stolpersteine ebenerdig vor deren letzter frei gewählter Wohnstätte zu verlegen. Die genauen Termine finden Sie in der Rubrik „Neues auf dem Gebiet der Aufarbeitung“ sowie auf der Internetseite www.stolpersteine-leipzig.de.

 

In unserem Rückblick erwartet Sie außerdem ein ausführliches Resümee zu unserem letzten Montagsgespräch mit dem ersten demokratisch gewählten Oberbürgermeister Leipzigs Hinrich Lehmann-Grube sowie eine Zusammenfassung vom 2. Ökumenischen Kirchentag in München, auf dem das Bürgerkomitee mit einem Stand vertreten war.

 

Wir würden uns freuen, Sie bei einer unserer Veranstaltungen im Juni begrüßen zu können.

 

Ihr Bürgerkomitee

 

 

 

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INHALT

Wir laden ein

Neues auf dem Gebiet der Aufarbeitung

Rückblick

Aus dem Gästebuch

 

 

 

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WIR LADEN EIN

 

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7. JUNI 2010, 19.00 UHR, EHEMALIGER STASI-KINOSAAL

„WIR SIND DAS VOLK!“ – MONTAGSGESPRÄCH IN DER „RUNDEN ECKE“ MIT MARTIN BURKERT

Zum 20-jährigen Jubiläum der Friedlichen Revolution erinnert das Museum in der „Runden Ecke“ in ganz persönlichen Gesprächen an die Ereignisse von 1989. Jeden ersten Montag im Monat laden wir Zeitzeugen ein, die sich damals in besonderer Weise für Demokratie und Gerechtigkeit engagierten. Als Gast begrüßt das Museum diesmal den ehemaligen Landgerichtspräsidenten Martin Burkert, der sich nach 1990 in Leipzig für den Aufbau einer unabhängigen, demokratischen Justiz einsetzte.

 

1939 in Mittelfranken geboren, ließ er sich nach einer erfolgreichen juristischen Laufbahn in Bayern nach der Wiedervereinigung am Leipziger Landegericht abordnen. Mit dem Bestreben eine funktionierende und demokratische Justiz wiederaufzubauen legte er sein persönliches Augenmerk auf die Rehabilitierung der politisch Verfolgten in der DDR. Nachdem er zunächst das Amt des Vizepräsidenten ausgeübt hatte, wurde er 1993 zum Präsidenten des Landgerichtes ernannt. Verdient machte sich Burkert vor allem durch den juristischen Wechsel vom Bezirksgericht zum Landgericht und dem großen Engagement bezüglich der Bearbeitung der Rehabilitierungsverfahren, welche einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der SED-Diktatur beisteuerte. Eine zentrale Herausforderung der Demokratie sei heute die Weitergabe der Überzeugung, dass es bei allen Mängeln sie die beste der möglichen Staatsformen ist, so Burkert.

Es moderieren Reinhard Bohse und Tobias Hollitzer

Der Eintritt ist frei.

 

 

9. JUNI 2010, 19.00 UHR, AUSSTELLUNG MUSEUM „RUNDE ECKE“

19. LEIPZIGER LITERATURFRÜHLING: LESUNG VON THOMAS RENKER MIT MUSIK

Der Autor, der Mitte der 1980er Jahre in Stasihaft gelangte und danach aus gewiesen wurde, liest aus seinem Text „Sie dürfen Genosse Major zu mir sagen“ aus der Anthologie „Als die Schatten länger wurden“. In Text und Gespräch stellt Renker seinen Weg vom Interhotel-Spitzenkoch zum Dissidenten dar und beschreibt seine Erfahrung mit Verfolgung und Haft in der DDR, wo er durch seine Ehrlichkeit und einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn folgerichtig in Konflikte geriet. Musikalisch begleitet wird der Abend von M.C. Maltitz.

 

Der Eintritt ist frei

 

 

17. JUNI 2010, 17.00 UHR, STRAßE-DES-17.-JUNI 2, 04107 LEIPZIG

GEDENKFEIER FÜR DIE OPFER DES VOLKAUFSTANDES VOM 17. JUNI 1953

In diesem Monat jährt sich der gewaltsam niedergeschlagene Volksaufstand vom 17. Juni 1953 zum 57. Mal. Die Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ möchte in Absprache mit der Vereinigung für die Opfer des Stalinismus e.V. sowie dem Bund Stalinistisch Verfolgter die Tradition einer jährlichen Veranstaltung zum Gedenken an die Opfer des Aufstandes in der gleichnamigen Straße in Leipzig fortführen und lädt Sie ganz herzlich zu einer Gedenkfeier ein.

 

Das Gedenken an den 17. Juni 1953 sollte aufgrund der Relevanz des Geschehenen nicht nur auf runde Jubiläen beschränkt sein. Im vergangenen Jahr gab es keine offizielle Gedenkveranstaltung, dabei sollte gerade in Leipzig, der Stadt der Friedlichen Revolution, die Erinnerung an den Volksaufstand gegen die SED-Diktatur gepflegt und gewürdigt werden.

 

Mit der blutigen Niederschlagung des friedlichen Volksaufstandes von 1953 scheiterte zugleich der Versuch großer Teile der ostdeutschen Bevölkerung, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und die deutsche Einheit durchzusetzen. 1953 und 1989 sind Schlüsseldaten in der Geschichte von Widerstand und Opposition in der ganzen DDR. In Leipzig demonstrierten am 17. Juni 1953 zehntausende friedlich, die Sicherheitskräfte der DDR und die Besatzungstruppen reagierten brutal: Allein 9 Menschen wurden in Leipzig getötet, viele andere verletzt. Unzählige Demonstranten erhielten hohe Haftstrafen. Nur so konnte die SED ihre diktatorische Herrschaft weiter gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung sichern.

 

Genau wie dem Herbst ´89 sollte auch dem 17. Juni 1953 in Leipzig ein jährliches Gedenken zuteil werden, um das Bewusstsein für den Freiheitswillen der DDR-Bevölkerung wach zu halten. Anders als die erfolgreiche Überwindung der SED-Diktatur durch die Friedliche Revolution stellt der 17. Juni ein Trauma in den demokratischen Bestrebungen der DDR-Bürger dar. Gerade dieses Ereignis darf deshalb nicht vergessen werden. Da es in den nächsten Jahren zudem immer weniger Zeitzeugen geben wird, ist die Etablierung einer regelmäßigen Gedenkfeier in Leipzig besonders wichtig, stehen doch die Opfer des Volksaufstandes exemplarisch für den Widerstand gegen die kommunistische Diktatur seit 1945 und müssen eine entsprechende Würdigung erfahren.

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AUS DER ARBEIT DER GEDENKSTÄTTE

 

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4. UND 5. JUNI 2010

15 NEUE STOLPERSTEINE FÜR LEIPZIG – ANGEHÖRIGE REIST AUS DEN USA AN

Zur Verlegung der STOLPERSTEINE in Leipzig am 4. und 5. Juni 2010 möchten alle an der Umsetzung des Vorhabens beteiligten Vereine Sie recht herzlich im Namen der Stadt einladen.

 

Die insgesamt 15 Stolpersteine, die der Kölner Künstler Gunter Demnig ebenerdig vor den letzten Wohnorten der Opfer in das Straßenbett einlässt, erinnern an das Schicksal von Leipziger Mitbürgern, die aus unterschiedlichen Gründen von den Nazis verfolgt und ermordet wurden. Deren Schicksal wurde von Initiativen und Angehörigen zum Teil jahrelang recherchiert.

 

Bisher liegen 120 STOLPERSTEINE an 60 Orten in Leipzig. Jetzt werden 15 weitere Steine folgen. Im Folgenden finden Sie die Terminübersicht mit kurzen Informationen der geehrten Opfer.

 

4. Juni 2010

14.00 Uhr

Raustraße 6

Der Kommunist Georg Schumann wurde schon von 1933 bis 1939 von den Nationalsozialisten inhaftiert. Mit Mitstreitern (Schumann-Engert-Kresse-Gruppe) organisierte er einen fundamentalen Widerstand gegen die Nazi-Diktatur. Am 11.01.1945 wurde er dafür in Dresden hingerichtet.

 

14.30 Uhr

Ernst-Pinkert-Straße 6 (ehem. Erich Weinert Straße)

Pinkus Falek kam als „politischer Häftling und Jude“ in das KZ Buchenwald, wo er am 05.07.1941 zu Tode kam. Seine Frau Rachel Falek wurde am 22.08.1941 mit 286 weiteren Leipzigern nach Belzyce deportiert.

 

15.00 Uhr

Humboldtstraße 9

Paula und Jakob Buchaster flohen 1939 mit ihrem knapp einjährigen Sohn Manfred nach Italien. Die Eltern wurden 1944 nach Auschwitz deportiert. Den mittlerweile 5-jährigen Manfred ermordete die SS vermutlich in Italien. Paula Buchaster konnte in Bergen-Belsen befreit werden.

 

15.30 Uhr

Ranstädter Steinweg (ehem. Naundörfchen 8)

Der Genozid an den Sinti traf auch die Eheleute Laubinger. Karl Laubinger kam 1940 im KZ Sachsenhausen ums Leben und seine Frau Anna 1945 in Bergen-Belsen.

 

16.00 Uhr

Dieskaustraße 10

Der Arzt Dr. Berthold Seckelsohn kam im Ghetto von Theresienstadt am 18.02.1943 ums Leben.

 

16.30 Uhr

Brandvorwerkstraße 52

Fanny Feinstein gehörte zu den Menschen die 1943 aus dem Ghetto Theresienstadt nach Auschwitz deportiert und ermordet worden sind.

 

5. Juni 2010

9.30 Uhr

Kochstraße 56

Die 4-köpfige Familie Landwirth wurde 1938 nach Polen abgeschoben. Vermutlich im Krakauer Ghetto ist 1940 die jüngste Tochter geboren worden. Die Kinder Erika, Genia und Renate überlebten den Holocaust nicht.

 

10.00 Uhr

Auguste Schmidt Straße (ehem. Nr. 9)

Dem selbständigen Buchdrucker David Wainberg gelang 1939 noch die Flucht nach Belgien. Über das Lager Mechelen kam er 1942 nach Auschwitz.

 

10.30 Uhr

Mölkauer Straße 34

Durch seine gleichgeschlechtliche Orientierung bekam Willy Angermann das Stigma eines „Gewohnheitsverbrechers“ und wurde in das KZ Buchenwald gebracht. Hier kam der junge Mann am 24.11.1943 ums Leben.

 

Musikalisch begleitet uns André Bauer am Saxophon.

 

Gegen 11.15 Uhr werden in Markkleeberg die ersten Stolpersteine verlegt. In der Hauptstr. 3 wird in dieser Form an Olla und Ludwig Bamberger erinnert.

 

Weitergehende Informationen zu den einzelnen Schicksalen können Sie auf unserer Homepage www.stolpersteine-leipzig.de nachlesen.

 

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RÜCKBLICK

 

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3. MAI 2010: 19.00 UHR, EHEMALIGER STASI-KINOSAAL

„WIR SIND DAS VOLK!“ – MONTAGSGESPRÄCH IN DER „RUNDEN ECKE“ MIT HINRICH LEHMANN-GRUBE

 

„In Deutschland haben wir zweimal großes Unglück über die Welt gebracht, jetzt haben wir Möglichkeit ein großes Friedenswerk zu begehen. Da mach ich mit.“ Denn eigentlich hatte Hinrich Lehmann-Grube 1990 gar keinen Grund in die DDR überzusiedeln, deren Staatsbürgerschaft anzunehmen und sich zum Bürgermeister von Leipzig mit seinen „kaputten Straßen, kaputten Häusern und kaputten Politikern“ wählen zu lassen. Trotzdem brachte er den Mut auf; den Mut zu einer anderen Politik, den Mut zur Verantwortung, neun Jahre lang.

 

Hinrich Lehmann-Grube wurde 1932 im ostpreußischen Königsberg als Sohn eines Kinderarztes geboren. Seine Kindheit empfand er an der Seite seiner vier Geschwister als „glücklich und unbeschwert“, trotz der Diktatur der Nationalsozialisten, die in der sozialdemokratisch geprägten Familie ein stetiger Gegenstand war. Dem Wahnwitz des Endsieges schenkten die Eltern keinerlei Glauben, sodass der Vater am Ende des Zweiten Weltkrieges schnell entschlossen handelte, als es hieß Ostpreußen als „Festung“ zu verteidigen. Er schickte die Familie nach Hamburg, wo sie im Haus des Großvaters unterkam. Dort erlebte Lehmann-Grube einen geregelten Schulalltag, fern von Massenbombardements und Kämpfen. Das grausame Schicksal der Flucht blieb ihm erspart.

 

Als 16-Jähriger wurde ihm das Glück zuteil, mit der ersten deutschen Schülergruppe ein Jahr in den Vereinigten Staaten zu verbringen, wo er bei einer sehr religiösen Familie in einem ländlichen Teil ein schönes und „prägendes“ Jahr erlebte. Den Entschluss Jura zu studieren fasste er, nachdem er einen Freiwilligendienst in der Kinderpsychiatrie leistete, der ihn zu der Entscheidung brachte, nicht Arzt zu werden.

 

Da Hinrich Lehmann-Grube von Eltern und Großeltern eine dezidierte Haltung gegen den Nationalsozialismus und den Krieg erfahren hatte, blieb der typische Generationenkonflikt aus. Auch wenn mit Freunden und Familie viel zu aktuellen politischen Themen diskutiert wurde, bezeichnete er seine Sicht auf die deutsche Situation angesichts des Kalten Krieges als recht „naiv.“ Dass die Sowjetunion den besetzten Teil Deutschlands nicht wieder hergibt, war schon damals „völlig klar“ mit der Begründung: „Wir haben einen Krieg verschuldet, wir müssen das bezahlen“, was zu Folge hatte, dass die Teilung bei ihm kein Streitthema war, im Gegenteil: Sie wurde „billigend in Kauf genommen.“

 

Nach seinem Examen heiratete er 1957 und absolvierte anschließend ein Referendariat beim Nürnberger Städtetag. Die Gesetzgebung jener Zeit beschreibt Lehmann-Grube als „geprägt von dem Willen Neues zu denken“, sodass er mit Referentenentwürfen für das Lastenausgleichgesetz oder das Städtebauförderungsgesetz mit an einem soliden Fundament gebaut hat, nach dem heute noch gearbeitet wird. Den Grund für seine stringente und rasche Karriere vom Assessor bis zum gerade mal 32-jährigen Beigeordneten des - für ihn - interessantesten Dezernats für Bauentwicklung in Nürnberg lag auch in dem Umstand begründet, dass seine Konkurrenz „in Russland begraben lag.“ 1967 wechselte er nach Köln und arbeitete als Beigeordneter für allgemeine Verwaltung, wo er ein Jahr später Personalchef von 23.000 Mitarbeitern wurde.

 

Wie er denn die innerdeutsche Situation um 1968 wahrgenommen habe, lautete eine Frage der Moderatoren, und ob es für ihn auch eine prägende Zeit gewesen sei. Entgegen der Vermutung, die Lehmann-Grubes Biographie – mit 14 Jahren bei den Falken, danach SDS, später SPD – nahe legt, gesteht dieser nie „ein eifriger Parteisoldat gewesen zu sein.“ Im Vordergrund standen seine Promotion, die berufliche Karriere sowie seine zu dieser Zeit geborene erste Tochter. Sein langjähriger Wunsch, Chef einer Großstadtverwaltung zu werden erfüllte sich, nach einer verlorenen Wahl gegen Kurt Rossa in Köln, schließlich 1979 in Hannover.

 

Die Frage, ob er denn schon 1979 nach Osten geschaut habe, verneinte er: „Damit war ich keine Ausnahme“, denn ein Bezug bestand weder auf persönlicher, noch auf einer geschäftlichen Ebene. Das sollte sich mit der 1987 geschlossenen Städtepartnerschaft Hannover-Leipzig ändern. Obwohl Hinrich Lehmann-Grubes persönliches Augenmerk auf „menschlichen Beziehungen und geistigem Austausch“ lag, hatte er noch längst „keine Einheit Deutschlands im Kopf.“ Immerhin, von da an war Leipzig für ihn ein Thema. Den ersten Eindruck vom Osten gewann er mit den „demütigenden“ Grenzkontrollen. Leipzig hingegen hatte für ihn schon damals eine gewisse kulturelle Bedeutung, ein Lichtblick am Ende eines Tunnels, den es noch entlang der schmutzigen Wände, durch die industriell verschmutzte Luft und über die hermetisch abgeriegelte Grenze hinweg zu durchschreiten galt, so Lehmann-Grube.

 

Dass in diesem Land, mit dem man die Geschichte, die Sprache, die Kultur teilt, doch etwas „Unerhörtes“ passiere, bemerkte der Oberstadtdirektor trotz vorheriger Leipzig-Besuche, bei dem ihm ein SED-Stadtrat versicherte, es sei „alles in Ordnung“, erst am 9. Oktober 1989. Bei diesem Umbruch wollte er sich an vorderster Front engagieren und studierte akribisch über die Medien alle Vorkommnisse im anderen Teil Deutschlands, dessen Interesse bisher ausschließlich politisch, aber „vom Herz […] kein Thema“ war. Bereits am 9. Oktober habe er jedoch „gewisse Mauerrisse“ im DDR-Staatsgebäude erkannt. Mit der „großen Euphorie“, mit der am Tag des Mauerfalls in Hannover die DDR-Bürger empfangen wurden, fühlte er eine mindestens so „große Bereitschaft für dieses ‚Neue‘ sehr viel zu tun.“

 

Am 18. März 1990, dem Tag der ersten freien Volkskammerwahl, bekam die SPD, wie Lehmann-Grube selbst gesteht, „mit Recht furchtbar eins auf die Mütze.“ Um in Leipzig einem ähnlichen Fiasko für die Partei zu entgehen, riefen ihn Vertreter der Leipziger SPD in der Nacht auf den 20. März 1990 an und schlugen ihm vor, bei der Kommunalwahl für die SPD als Oberbürgermeister zu kandidieren. Dieses Angebot wollte er nicht ausschlagen, da er „das Gefühl habe, dringend gebraucht zu werden.“ Die Entscheidung brachte eine Reihe drastischer Umstellungen mit sich, die von einem Westdeutschen bis dato unerwartet waren und von Lehmann-Grube viel abforderten. Die Kraft dazu hätte er ohne seine Familie, die mit ihm nach Leipzig zog, wohl nicht aufgebracht. Auch nahm er die Gehaltsumstellung von 9000 DM-West auf 2000 DM-Ost und die verpflichtende Annahme der DDR-Staatsbürgerschaft in Kauf. „Nur das politische Umerziehungslager blieb außen vor.“ Der 1. Mai 1990 im Clara-Zetkin-Park brachte schließlich mit einer 20-Minuten-Rede für ihn selbst und für viele Leipziger die Bestätigung, er sei der Richtige für dieses Amt, das er bei der gewonnenen Kommunalwahl dann auch erhielt.

 

An die erste Zeit in Leipzig, in der sich niemand mit Verwaltungsangelegenheiten auskannte, erinnert sich Lehmann-Grube nur noch episodenhaft. Seine eigene Vorgabe war, niemanden von den alten Kadern ins Boot zu holen. Die Neuen sollten fehlende Erfahrung durch politische Zuverlässigkeit, Motivation und „kreative Intelligenz“ kompensieren. Hierzu stellte er sich unabhängig von Parteien eine Mannschaft zusammen indem er den Runden Tisch „plündern“ ging. Als er schließlich doch seinen SED-Vorgänger Hädrich zum Kämmereichef machte, schlug ihm das erste Mal geballter Widerstand entgegen. Trotz der immensen Personalnot musste er primär diese rudimentäre Stadtverwaltung wieder funktionsfähig machen. Sich selbst hat der neue Bürgermeister nie als den Architekten dieser Stadt gesehen, vor der er so viel Respekt hatte. Vielmehr als „Gärtner“ eines ursprünglich sehr schönen Gartens, an dem viele Winter vorübergegangen waren und in dem man nun das Leben in den tiefen, toten Wurzeln finden müsse. Kulturell war noch vieles erhalten, doch wirtschaftlich war Leipzig tot.

 

Inspiriert von den Runden Tischen, die ihm sehr imponiert hatten, konzipierte Lehmann-Grube sein eigenes, sein Leipziger Modell, bei dem zunächst alle für das Wohl der Stadt arbeiteten. Die Parteiinteressen spielten hier erst in zweiter Linie eine Rolle. Seine westdeutschen Kollegen verstanden nicht, wie er viele Probleme im Plenum diskutieren konnte, zumal konstruktiv. Wenn Lehmann-Grube vorher einmal einen Blick in Richtung DDR geworfen hatte, dann immer von Außen. Jetzt steckte er mittendrin. In diesem Machtapparat, umgeben von alten SED-Politikern, MfS-Mitarbeitern und konfrontiert mit der Vergangenheit einer Diktatur, die er nicht miterlebt hatte. Es gab viele Verdächtigungen, die nicht offen ausgesprochen wurden. Die Behandlung solcher Fälle delegierte er, aber das Verfahren sollte rechtsstaatlich und transparent sein. Eine Vierer-Kommission benötigte ein Jahr um alle Verdachtsfälle abzuarbeiten. Es gab nur sehr wenige der 200 Mitarbeiter, die nicht mehr in der Stadtverwaltung arbeiten durften. Diese Distanz zur DDR und auch zur Stasi ließen ihn die Prioritäten ganz anders setzen. Sachfragen standen im Vordergrund, mit unzureichenden Mitteln musste die Stadt regiert werden und es fehlten 100.000 Arbeitsplätze. Es gab eine Fülle von Sachproblemen und die „Vergangenheit hat nicht die dominante Rolle gespielt.“ Wohl oder übel.

 

Im Resümee sieht Hinrich Lehmann-Grube die letzten 20 Jahre als Erfolgsgeschichte. Für das, was ohne Waffengewalt bewegt wurde, steht die Friedliche Revolution exemplarisch. Selbst wenn es ein schwieriger Prozess war, trotz Euphorie nicht richtig angepackt wurde, auf große Erwartungen große Enttäuschungen folgten, spricht er sich doch dafür aus, dass das Positive in dieser Bilanz überwiegt.

 

12. – 16. MAI 2010: TEILNAHME AM 2. ÖKUMENISCHEN KIRCHENTAG IN MÜNCHEN

Über Hunderttausend Besucher kamen vom 12. bis 16. Mai 2010 zum 2. Ökumenischen Kirchentag nach München. Auch das Bürgerkomitee beteiligte sich – wie seit 1997 regelmäßig an den evangelischen und ökumenischen Kirchentagen – wieder mit einem eigenen Stand, dieses Mal auf der so genannten Agora in dem Themenbereich „Lebendige Geschichte“. Dieser Veranstaltungsbereich auf dem Gelände der Münchner Messe ermöglichte es Einrichtungen, Vereinen, Initiativen und Institutionen sich und ihre Tätigkeit einem breiten Publikum vorzustellen.

 

In unmittelbarer Nachbarschaft von Einrichtungen der politischen Bildung informierte das Bürgerkomitee die Besucher über das Museum in der „Runden Ecke“ mit dem Museum im Stasi-Bunker, die Aufarbeitung der SED-Diktatur sowie die Aktivitäten im Zuge der Jubiläumsjahre 2009/2010.

 

Am Stand waren einige Tafeln, die über die Arbeitsweise des Bürgerkomitees und des Museums Gedenkstätte in der „Runden Ecke“ informierten, zu sehen. Des Weiteren wurde mit einer Tafel auf die Sonderausstellung „Leipzig auf dem Weg zur Friedlichen Revolution“ hingewiesen und eine AV-Station mit Originalmaterial zur Besetzung der Stasi-Zentrale 1989 eingerichtet. Darüber hinaus bot der Verein eine Auswahl von Infomaterial und Informationen zur politischen Bildung, die sich mit der DDR-Vergangenheit befassen, an, wovon die Kirchentagsbesucher regen Gebrauch machten. Besonders die noch bis Anfang Januar 2011verlängerte Sonderausstellung.

 

Gleichzeitig ergab sich die Möglichkeit zu zahlreichen Gesprächen – sowohl mit Menschen, die sich bisher wenig mit der Aufarbeitung der SED-Diktatur befasst hatten, als auch mit politisch stark interessierten oder selbst tätigen Besuchern. Somit gelang es im Rahmen des Kirchentags, ein größeres nationales Publikum für das Thema zu sensibilisieren und auf die Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke” mit dem Museum im Stasi-Bunker aufmerksam zu machen.

 

Daneben konnte mit einer Kartenaktion der Evangelischen Kirche in Sachsen auf den kommenden evangelischen Kirchentag in Dresden vom 1. bis 5. Juni 2011 aufmerksam gemacht werden, den besonders das jüngere Publikum rege nutzte.

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AUS DEM GÄSTEBUCH

 

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Mehrere tausend Menschen besuchen monatlich die Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ mit dem Museum im Stasi-Bunker. Manche leben in Leipzig und kommen – häufig mit Gästen – immer wieder in die Ausstellung. Andere kommen von weit her zu Besuch in die Stadt und wollen hier sehen, wo und wie vormals das berüchtigte Ministerium für Staatssicherheit arbeitete.

 

Viele unserer Besucher hinterlassen eine Notiz im Gästebuch und schreiben hier ihre Eindrücke nieder, die sie in der Gedenkstätte gesammelt haben. Unter dieser Rubrik wollen wir monatlich einige dieser Einträge an Sie weitergeben.

 

„Thank you for a wonderful exhibition of very recent history. We travelled through the old East-Germany with our children in a camper van in 1980, and realize now that we experienced history.”

(Besucher der Dauerausstellung aus Australien am 27.04.2010)

 

„Unglaublich und doch wahr! Ich hoffe wir haben auch aus dieser Geschichte etwas für unsere Zukunft gelernt. Dieses Museum muss erhalten bleiben.“

(Besucher der Dauerausstellung am 26.04.2010)

 

„Gelungene Ausstellung! Sehr interessant und löblich, dass die technische Seite so gut beleuchtet wurde!“

(Besucher der Dauerausstellung am 05.05.2010)

 

 

EINTRÄGE AUS DER SONDERAUSSTELLUNG „LEIPZIG AUF DEM WEG ZUR FRIEDLICHEN REVOLUTION“

 

„Die Ausstellung dokumentiert eindrucksvoll den Weg bis hin zur Wiedervereinigung. Es gefällt mir sehr gut, wie die Ausstellung einerseits einen regionalen Blickwinkel und andererseits den internationalen Blickwinkel miteinander vereint.

Die Sonderausstellung sollte einen festen Platz in einem Museum bekommen. Allein schon zu Ehren derer, die den Mut hatten als erstes auf die Straße zu gehen und damit zur Freiheit und zur Wiedervereinigung beigetragen haben! Dann sollte auch eine englische Übersetzung gemacht werden.

Also, großes Lob an die Initiatoren.“

(Besucher der Sonderausstellung am 16.05.2010)

 


 



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Die Arbeit des Bürgerkomitees wird gefördert durch die Stiftung Sächsische Gedenkstätten aus Mitteln des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien auf der Grundlage eines Beschlusses des Deutschen Bundestages und des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst sowie durch die Stadt Leipzig und den Kulturraums Leipziger Raum.

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Bürgerkomitee Leipzig e.V.
für die Auflösung der ehemaligen Staatssicherheit (MfS)
Träger der Gedenkstätte
Museum in der „Runden Ecke“ mit dem Museum im Stasi-Bunker
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