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Donnerstag, den 06. März 2025

Käthe Leibel und ihr Sohn Jochen: Geflohen vor zwei Diktaturen

Kategorie: Pressemitteilung

Seit vielen Jahren forscht die Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ zum Leipziger Matthäikirchhof. Dieses Areal, am westlichen Rand der Innenstadt gelegen, ist bis heute geprägt vom Gebäudekomplex der Leipziger Bezirksverwaltung für Staatssicherheit. Im Rahmen der Erarbeitung der Open-Air-Ausstellung „Von der Burg zur Stasi-Zentrale – Erinnerungen an den Matthäikirchhof“ hat die Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ umfangreiches Material recherchiert, gesammelt, inventarisiert und dokumentiert. Der Fokus liegt auf dem Matthäikirchhof und seiner unmittelbaren Umgebung selber, der baulichen Entwicklung des Areals und besonders die der ehemaligen Leipziger Bezirksverwaltung für Staatssicherheit.

Doch auch Einzelschicksale von Menschen, die hier gelebt und gewirkt haben, werden beleuchtet. In diesem Kontext stießen die Forscherinnen und Forscher der Gedenkstätte auch auf das Schicksal von Käthe Leibel und ihrem Sohn Joachim Richard, die während der NS-Diktatur hier in einem „Judenhaus“ wohnen mußten, ehe ihnen die Flucht gelang. Ein katholisches Ehepaar aus Halle versteckte die beiden mit Hilfe vieler Unterstützer bis zum Ende des Krieges. Als Käthe Leibel in der gerade gegründeten DDR von der Staatssicherheit aufgefordert wurde ihre Lebensretter für das neue System zu bespitzeln, fliehen die beiden Familien in die Bundesrepublik.

Im Gedenken an Käthe und Jochen Leibel wurden am 6. März 2025, vor ihrem letzten freiwillig gewählten Wohnort in der Elsterstraße 53 in Leipzig zwei Stolpersteine verlegt.

Das „Judenhaus“ in der Großen Fleischergasse 28

Im Zuge der Recherchen rund um den ehemaligen Gebäudebestand am Matthäikirchhof bekam die Große Fleischergasse 28, genannt „Das goldene Herz“, einen besonderen Stellenwert. Charakteristisch war der Innenhof mit seinen umseitigen Holzgalerien, die sich direkt an der Rückseite des Gebäudes Matthäikirchhof 35, dem damals schmalsten Haus Leipzigs, befanden. In den 1930er Jahren eröffnete im Erdgeschoss das Restaurant „Zum Schwarzwald“, zuvor bestand hier das „Café Urwald“. 1938 gingen Gebäude und Grundstück an die Reichsmessestadt Leipzig über.

Überlieferte Deportationslisten bezeugen, dass die Große Fleischergasse 28 seit circa 1941 als ein sogenanntes „Judenhaus“ diente: Dabei handelte es sich um im Stadtgebiet verteilte Wohnhäuser, die die Funktionen eines Ghettos hatten. Jüdische Familien oder Einzelpersonen wurden an diesen Adressen zwangsweise auf engstem Raum zusammengepfercht. Mehr als 20 Menschen lassen sich anhand der Listen nachweisen, die in der Großen Fleischergasse 28 bis zu ihrer Deportation in die Arbeits- und Vernichtungslager der Nationalsozialisten lebten und dort fast alle ums Leben kamen.

Auf der Flucht vor dem NS-Regime

Käthe Leibel wurde am 11. Februar 1914 in Leipzig geboren. Ihre Eltern waren der Kurzwarenhändler Joachim Leibel und Maria Leibel, geborene Kober. Käthe Leibels Sohn Joachim Richard, genannt Jochen, wurde am 6. Juni 1940 in Leipzig geboren. Mit seinem Vater Erich Kühnert war sie nicht verheiratet, da dies zwischen ihr als Jüdin und ihm als „Arier“ aufgrund der Nürnberger Gesetze im NS-Deutschland verboten war.

Seit 1940 musste Käthe Leibel mit ihrem Sohn mehrfach die Wohnungen innerhalb der „Judenhäuser“ in der Stadt Leipzig wechseln. Bis Januar 1942 wohnten sie in der Keilstraße 5, danach in der Großen Fleischergasse 28. Beide standen schon im Januar 1942 erstmals auf Deportationslisten in die NS-Vernichtungslager, wurden jedoch vorerst wieder gestrichen aufgrund von Käthe Leibels Status als „kriegswichtige Pelznäherin“.

Am 17. Februar 1943 standen erneut beide Namen auf der Liste für die Deportation nach Theresienstadt/Auschwitz. Zunächst wollte Käthe Leibel, „müde, in dieser ständigen Angst und Einengung zu leben“, der Aufforderung nachkommen. Ihre Freundin Johanna Landgraf überzeugte sie vom Gegenteil: Sie machte sie mit Erich Zeigner sowie dem Dominikanerpater Aurelius Arkenau bekannt, die Käthe Leibel nahelegten, unterzutauchen. Auf dem Tisch in der Wohnung in der Großen Fleischergasse 28 hinterließ sie einen Abschiedsbrief, der ihren Selbstmord vortäuschte.

Erster Versteckort war das Dominikanerkloster St. Albert in Wahren, wo Pater Aurelius Arkenau Mutter und Sohn auf einem Dachboden verbarg. Währenddessen machte Johanna Landgraf weitere Verstecke in Leipzig aus: Zunächst bei einer Familie Hering, danach wechselnd bei verschiedenen Schulfreundinnen und immer mit der Geschichte, dass Käthe Leibel mit ihrer Schwiegermutter zerstritten sei, die ihr die Lebensmittelkarten vorenthält und nun um zeitweise Aufnahme bat. Teilweise mussten Mutter und Sohn getrennt voneinander untergebracht werden, um weniger Aufmerksamkeit zu erregen. Mögliche Verstecke in Leipzig wurden jedoch immer weniger und gefährlicher, weswegen Käthe vorübergehend zu Verwandten nach Thüringen geschickt wurde, wo sie in der Landwirtschaft arbeitete. Währenddessen erkrankte Jochen bei seiner Pflegefamilie Phillipp in Leipzig-Möckern schwer. Um die notwendigen Medikamente beschaffen zu können, wurde die Tochter der Familie, Martha Phillipp, absichtlich mit der Krankheit infiziert.

Um Käthe und Jochen dauerhaft gemeinsam an einem Ort unterbringen zu können, benötigten die Beiden dringend eine neue Identität. Pater Aurelius Arkenau nutzte hierfür seine Verbindungen. Er schickte Johanna Landgraf im Mai 1943 zu einem Pfarrer (vermutlich dem später von den Nationalsozialisten hingerichteten Max Josef Metzger) nach Berlin, der ihr Papiere aushändigte. Aus Käthe Leibel wurde jetzt Helga Rousseau, Stenotypistin und Bombenflüchtling aus Berlin, mit ihrem Sohn Richard Rousseau. Das Wohnhaus in Berlin fiel kurze Zeit später tatsächlich einem Bombenangriff zum Opfer. Was mit der „echten“ Helga Rousseau geschah, konnte bislang nicht nachvollzogen werden.

Ein katholisches Ehepaar versteckt Käthe und Jochen Leibel fast zwei Jahre in Halle

Ein dauerhafter Aufenthaltsort fand sich Mitte 1943 schließlich in Halle an der Saale bei dem katholischen Ehepaar Ernestine und Edgar Koch. Diese betrieben ein vegetarisches Restaurant sowie eine Gärtnerei. Auf dessen Gelände befand sich ein kleines Gärtnerhaus, dass ursprünglich einen Lehrling beherbergte, der jedoch zur Armee eingezogen war. Somit konnten Mutter und Sohn das Haus beziehen.

Käthe begann, in der Gärtnerei auszuhelfen, Jochen konnte eine relativ normale Kindheit bei „Tante und Onkel“, Ernestine und Edgar, verbringen. Trotzdem blieb in den nächsten zwei Jahren die ständige Angst vor Entdeckung bestehen, besonders wenn der kleine Jochen anfing, Fragen zu stellen. Sowohl Käthe Leibel und ihr Sohn als auch das Ehepaar Koch waren in ständiger Lebensgefahr.

Am 17. April 1945 zogen die ersten US-amerikanischen Soldaten in Halle ein und befreiten damit nicht nur die Stadt, sondern auch Käthe Leibel und ihre Retter aus der eigentlich unerträglichen Bedrohung. Um auch offiziell wieder ihre eigentlichen Namen zurück zu erhalten (die originalen Papiere waren vernichtet worden), bürgten Erich Zeigner (inzwischen Oberbürgermeister von Leipzig) und Johanna Landgraf, sodass bei der Hallenser Meldebehörde am 29. Mai 1945 aus Helga und Richard Rousseau wieder Käthe und Joachim Richard Leibel wurden.

Beide lebten weiterhin bei und mit dem Ehepaar Koch in der Hardenbergstraße 3 in Halle. Jochen besuchte die Grundschule in Halle, Käthe arbeitete weiter in der Gärtnerei der Kochs.

Flucht vor dem SED-Regime in die Bundesrepublik

Als bekannte und bekennende Katholiken stand das Ehepaar Koch auch kritisch zum Aufbau einer kommunistischen Diktatur in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) sowie der 1949 gegründeten DDR. Ende 1950 trat das gerade neu gebildete Ministerium für Staatssicherheit an Käthe Leibel heran: Als Opfer des Faschismus müsse sie doch den Sozialismus in der DDR unterstützen. Sie sollte die beiden Menschen, die sie fast zwei Jahre lang unter Inkaufnahme schwerster persönlicher Folgen vor dem sicheren Tod in einem NS-Vernichtungslager bewahrt hatten, nun für das SED-Regime bespitzeln und Berichte liefern. Vorerst lehnte sie ab, doch die Drohung, dass ihr Sohn „in Moskau erzogen wird“, zwang sie zu handeln.

Einen Ausweg aus der Aufforderung zum Verrat ihrer Retter sah Käthe Leibel nur in der erneuten Flucht, nun in die Bundesrepublik. Gemeinsam mit ihrem Sohn und dem Ehepaar Ernestine und Edgar Koch floh sie über Berlin-Ost zunächst nach Wedding in Berlin-West, wo sie im August 1951 als politische Flüchtlinge registriert wurden und in der katholischen Einrichtung „Christ-Königs-Schwestern“ unterkamen. Von dort ging es später weiter in die Bundesrepublik. Jochen wurde, versteckt als „Holger“ in einer Westberliner Schulklasse, nach Hamm an der Sieg im Westerwald geschickt, wo er für zwei Jahre bei Heinrich und Hedwig Schäfer, Jugendfreunde der Kochs, unterkam. Käthe Leibel fand erst 1953 eine feste Anstellung bei einem Caritas-Verband in Hamburg, sodass sie nach zwei Jahren Trennung ihren Sohn wieder zu sich holen konnte.

Käthe Leibel heiratete 1960 und lebte bis zu ihrem Tod 2008 in Hamburg. Jochen war zuletzt als Frankreich-Korrespondent eines Hamburg-Berliner Zeitungsverlages tätig. Er gründete eine Familie und lebte bis zu seinem Tod 2019 in Frankreich. Das Ehepaar Koch wurde in Bad Orb ansässig. Dort starb Edgar im Jahr 1978, Ernestine vier Jahre später in einem Seniorenstift in Trippstadt bei Kaiserslautern.

Gedenken an die „Stillen Helden“ Edgar und Ernestine Koch in Halle – Stolpersteine für Käthe und Jochen Leibel in Leipzig

Auf Initiative des Zeitgeschichte(n) e.V. Halle wurde im April 2018 am Gebäude in der Schmeerstraße 5 in Halle, wo das Ehepaar Koch zuletzt ihr vegetarisches Restaurant betrieben, eine Gedenktafel angebracht. „Reden sie über meine Retter aus Halle, nicht über mich“, zitierte die Mitteldeutsche Zeitung am 23. April 2018 Jochen Leibel, der damals gemeinsam mit seiner Familie aus Frankreich zur Enthüllung der Tafel angereist war.

Mit der heutigen Verlegung von Stolpersteinen für Käthe und Jochen Leibel in der Elsterstraße 53 in Gegenwart der Witwe von Jochen Leibel und seiner Kinder mit deren Familien wird nun auch in Leipzig offiziell an ihr Schicksal erinnert.

Die Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ möchte mit seinen Forschungen und Veröffentlichungen ebenso zur Verbreitung der Geschichten jener Menschen beitragen, die als „Stille Helden“ in der Zeit des Nationalsozialismus ihr Leben riskierten, um andere zu schützen. Gleichwohl zeugt das Vorgehen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR und der Umgang mit einer Frau, die ihre Retter vor dem sicheren Tod, bespitzeln sollte, auf eindrückliche Weise vom Charakter der SED-Diktatur.

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