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Donnerstag, den 05. April 2001

Aktuelle Debatte um die Auseinandersetzung mit der zweiten deutschen Diktatur

Kategorie: Pressemitteilung
Von: Bürgerkomitee
Täter stilisieren sich zu Opfern

Frank Liehr hat sich “nichts vorzuwerfen”. Oliver Nix hofft auf “das Recht eines jungen Menschen, Fehler machen zu dürfen”. Horst Mempel leidet darunter, leben zu müssen “wie ein Beschmutzter” - in der aktuellen Debatte um Redakteure des MDR, die als einstige Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit enttarnt wurden, ist eine Tendenz besonders erschreckend: Täter stilisieren sich zu Opfern.

Rückendeckung bekommen sie dabei von namhaften Persönlichkeiten mit mehr oder weniger Sachverstand, die unbeschwert mit den Begriffen “Opfer” und “Betroffene” jonglieren. Sie verwischen dabei die Grenzen zwischen denen, die im DDR- Unrechtsstaat Schaden erlitten und denen, die Schaden anrichteten. Friedrich Schorlemmer maßte sich jüngst sogar an, den Opfern "Unersättlichkeit" zu unterstellen und glaubt, zwischen vermeintlichen und wirklichen Opfern unterscheiden zu müssen. Er verunglimpft den eingeschlagenen, für beide Seiten oft schmerzlichen Weg, sich mit der zweiten deutschen Diktatur offen auseinanderzusetzen, als "von Anfang an neurotisch".

Grenze zwischen Diktatur und Demokratie wird verwischt

Noch sind es lediglich Einzelpersonen, die eine Generalamnestie für die Täter von einst fordern, den Opfern Unersättlichkeit vorwerfen und einen endgültigen Schlussstrich ziehen wollen. Doch viel zu oft bleiben diese Stimmen unwidersprochen und gewinnen eben deshalb an Gewicht. Wer sie hört - ohne die Möglichkeit, sie mit Gegenargumenten aufzuwiegen - der läuft Gefahr, die Handlanger der SED-Diktatur als Gefangene eines Systems zu verstehen, in dem Widerspruch unweigerlich im Martyrium endete. Unumstritten ist, dass für menschliches Fehlverhalten in einer Diktatur mildernde Umstände gelten, doch darf es nicht zum Normalfall erklärt werden. Gerade das entwickelt sich momentan jedoch zum Trend - einem Trend, der jegliches Moralverständnis unterläuft. Denn die Lehre, die nachfolgende Generationen aus der leichtfertigen Absolution für Täter ziehen können, lautet: Zivilcourage in Diktaturen lohnt sich nicht; Willfähigkeit dagegen ist von persönlichem Nutzen und wird auch im Nachhinein nicht geahndet.

Die Gefahr der Verharmlosung und Mystifizierung des Unrechts der SED und ihrer Helfer ist vor dem Hintergrund der neuen Diskussion um ehemalige Stasi- Zuträger beim MDR heute größer denn je. Die Grenzen zwischen Diktatur und Demokratie werden in dieser Auseinandersetzung bewusst verwischt. Das Bürgerkomitee Leipzig hält es daher für geboten, den erschreckendsten Thesen und Unworten dieser Debatte nachdrücklich zu widersprechen:

“Ost-Biographien”
müssten endlich anerkannt werden, fordert der Theologe Friedrich Schorlemmer seit Wochen unbeirrt. Er erteilt damit dem einem Prozent der DDR-Bürger die Absolution, die dem Werben der Stasi nachgaben - angeblich nicht aus Machthunger, Geldgier oder Charakterlosigkeit, sondern immer aus Angst vor Repressionen. Den Mut einer ungleich größeren Zahl von Menschen aber, die im Bewusstsein aller möglichen Konsequenzen eine Zusammenarbeit mit Mielkes Geheimdienst ablehnten, würdigt er damit herab. Zu den Ost-Biografien gehören auch all die, die sich unter der 40-jährigen Diktatur wenigstens ein Mindestmaß an Anstand, Zivilcourage und Mitmenschlichkeit bewahrten. Dazu gehören die weit über eine Millionen Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen mußten, da sie das System nicht mehr ertrugen. Dazu gehören die Toten an der Mauer und am Stacheldraht und die tausenden politischen Gefangenen. Eines muss im Umgang mit dieser Vergangenheit immer deutlich bleiben: Die Täter waren in der Minderzahl.

“Jugendsünde”
ist ein Begriff, der sich besonders seit der Enttarnung des MDR-Moderators Oliver Nix als IM “Roul” oder des Intendanten des Leipziger Theaters der "Jungen Welt", Thilo Esche, als IM der K1 großer Beliebtheit erfreut. MDR-Intendant Udo Reiter selbst hatte ihn im Dezember vergangenen Jahres in die Debatte eingebracht, seither ist er oft aufgegriffen worden. Fehltritte müsse man einem jungen Menschen zugestehen, so argumentieren die moralischen Anwälte der Täter, egal welcher Art und welcher Tragweite sie sind. Gemeinhin wird ein junger Mensch jedoch spätestens mit Beginn seines 18. Lebensjahrs in die Reihen der Erwachsenen aufgenommen und somit für mündig erklärt. Wenn er selbst dann noch nicht in der Lage ist, diktatorische von demokratischen Strukturen zu unterscheiden, sollte ernsthaft überdacht werden, ob er bereits im genannten Alter mit seiner Wählerstimme über die künftige Regierung seines Landes entscheiden darf. Und wie ist die These von der “Jugendsünde” mit dem Schicksal der vielen jungen Menschen zu vereinbaren, die ihre laut gestellten Fragen oder ihr mutiges Beharren auf einer eigenen, nicht systemkonformen Meinung mit Haft oder bis heute fortwirkender Zerstörung ihrer Biografie bezahlen mussten?

Stasi-Generalität meldet sich zu Wort

“Hexenjagd” nennen 23 ehemals hochrangige MfS-Offiziere die Berichterstattung und Diskussion über IM beim Mitteldeutschen Rundfunk, in einer gemeinsamen Erklärung. Die Zeitung “Junge Welt” veröffentlichte sie am 19.03.2001. “In zehn Jahren sind wir wieder da”, hatte die Stasi 1989 den Revolutionären angekündigt, und scheint ihre Drohung nun wahr machen zu wollen. Die Inoffiziellen Mitarbeiter “erfüllten Verfassungspflichten und trugen zur Einhaltung der Gesetze bei” bescheinigen die Generäle und Oberste a.D. ihren einstigen Informationsquellen und wissen sich dabei “in Übereinstimmung mit vielen Mitarbeitern aller Bereiche”. Sie offenbaren mit dieser Erklärung zweierlei: Zum einen, dass die alten Strukturen, die das verschworene Grüppchen von MfS-Hauptamtlichen und Inoffiziellen eng aneinander banden, bis heute funktionieren. Zum anderen, dass auch der Ehrenkodex, demnach die Staatssicherheit ihre konspirative Arbeit als Dienst und alle Bemühungen um offenen Dialog als Verrat am Sozialismus verstand, nach wie vor uneingeschränkt gilt.

Vor Hexenjagden hatten die Führungskader des MfS und andere Sypathisanten des DDR-Regimes schon 1989/90 gewarnt. Nichts dergleichen ist geschehen. Die Aufarbeitung in der Bundesrepublik zeichnet sich ganz im Gegenteil durch einen sehr verantwortungsbewussten Umgang mit den Hinterlassenschaften der Diktatur aus. Die Friedliche Revolution hat die Eliten des alten Systems gewaltlos entmachtet - eine Generalamnestie wollte sie ihnen damit allerdings nicht gewähren.

Aufklärer in der Judasrolle

All diese Äußerungen sind Wasser auf die Mühlen der Täter, die nun, nach ihrer Enttarnung, die Opferrolle für sich beanspruchen. Doch die Debatte beginnt, noch weit groteskere Züge anzunehmen.

“Judas”
müssen sich neuerdings diejenigen beschimpfen lassen, die Aufklärung betreiben und das verschobene Täter-Opfer-Bild wieder zurechtrücken wollen. Journalisten, die die Kontrollfunktion der Medien ernst nehmen und über die Stasi-Vergangenheit ihrer Kollegen beim MDR berichten, sehen sich harschen Angriffen ausgesetzt, und das nicht nur von der kritisierten Sendeanstalt. Erst jüngst bedachte der Pressesprecher der Leipziger Oper, Michael Ernst, einen Redakteur der Tageszeitung “Die Welt” mit oben genanntem Titel. So werden die Verhältnisse vollends verkehrt, und wer wahrheitsgetreu berichten will, steht plötzlich als “Brunnenvergifter” da - wie es der Vorsitzende des Personalausschusses des MDR, Kirchenrat Horst Greim, formulierte. Der Pressesprecher einer der wichtigsten Leipziger Kultureinrichtungen verunglimpft die Bundesrepublik Deutschland als einem Staat der "auf Wehrmachts- und Gestapo-Mitglieder vertraute, auf SA- und SS- wie auf NSDAP-Mitglieder gegründet ist". Gerade weil nach 1945 in Ost wie in West die Aufarbeitung der Diktatur nur unzureichend gelang, müssen wir heute aus diesen Fehlern lernen und den eingeschlagenen Weg der offenen Akten und der ehrlichen Auseinandersetzung weitergehen. Dass die Bundesrepublik sich auf die Täter des Dritten Reiches gründete, kann allerdings nicht unwidersprochen bleiben. Mit dem Grundgesetz wurde die Basis für eine Demokratie in Deutschland geschaffen, im Osten dagegen wurde eine neue, 40 Jahre bestehende Diktatur aufgebaut. Wenn der Opern-Sprecher im gleichen Artikel zudem über unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe für BND und MfS klagt, macht er - bei allen Problemen, die geheimdienstliche Arbeit mit sich bringt - endgültig deutlich, dass er den Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie nicht begriffen hat. Ob ein solcher Mann weiter im Öffentlichen Dienst tragbar ist, darf zumindest hinterfragt werden.

Demokratie braucht Aufarbeitung statt Schlussstrich

Förderlich für die offene und öffentliche Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Vergangenheit sind die beispielhaft genannten Äußerungen nicht. Im Gegenteil: Sie liefern denjenigen Kräften in der Gesellschaft Argumente, die gerade dieser Tage auf eine Beschneidung des Stasi-Unterlagengesetzes hinarbeiten - eines Regelwerks, das zu Recht als eine der wichtigsten Errungenschaften der Friedlichen Revolution gilt und um das uns unsere östlichen Nachbarn beneiden.

Schon bei der Einführung des Stasi-Unterlagengesetzes sahen sich die Verfechter der Aufarbeitung teils heftigen Angriffen ausgesetzt. Sie haben sich davon nicht beirren lassen. Zwölf Jahre nach der Friedlichen Revolution ist noch immer intensives Engagement jedes einzelnen nötig, damit die Stimmen der Schlussstrichbefürworter nicht gefährlich laut werden.

Es wird der Gesellschaft nicht erspart bleiben, sich mit den unangenehmen Wahrheiten der DDR-Geschichte auseinander zu setzen. Eine Demokratie lebt von offenem Austausch über brennende, auch schmerzende Fragen. Die historische Erfahrung lehrt uns, dass kein Volk sich der Aufarbeitung gesellschaftlicher Probleme entziehen kann. Sofern es sie nicht aktiv angeht, treten sie in absehbarer Zeit von selbst wieder auf den Plan. Wohin eine solche Verzögerungstaktik führt, zeigt die Debatte um den MDR derzeit beispielhaft.