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Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

 

Vor wenigen Tagen ging im Museum in der „Runden Ecke“ die Sonderausstellung „Erschossen in Moskau…“ zu Ende. Im Begleitprogramm liefen Filme über die annähernd tausend Deutschen, die Anfang der 50er Jahre der sowjetischen Militärjustiz zum Opfer fielen, es waren Vorträge zu hören und Zeitzeugen berichteten von ihren Erinnerungen. Waren die Hintergründe der von Sowjetischen Militärtribunale ausgesprochenen Todesurteile noch vor zehn Jahren weitgehend unbekannt, ergab sich mit Ausstellung und Veranstaltungen ein regelrechtes Themenkaleidoskop, in dem auch Einzelschicksale ausführlich vorgestellt werden konnten. Einen Rückblick auf das Begleitprogramm finden Sie in diesem Newsletter.

 

Nicht nur Historiker, auch Künstler beschäftigen sich mit der DDR-Vergangenheit. Die Spanierin Dora García hat – unter anderem auch in der „Runden Ecke“ – lange zur Staatssicherheit recherchiert und ihre Ergebnisse in der Ausstellung „Zimmer, Gespräche“ verarbeitet. Diese zeigt noch bis 1. Juli die Galerie für Zeitgenössische Kunst. Gemeinsam mit dem Bürgerkomitee bietet diese auch ein Begleitprogramm an. Mehr dazu lesen Sie in den Kapiteln „Wir laden ein“ und „Neues auf dem Gebiet der Museumsarbeit“.

 

Wir laden Sie herzlich ein, die Ausstellung und das Begleitprogramm zu besuchen, und wünschen Ihnen zunächst viel Freude beim Lesen des Newsletters.

Ihr Bürgerkomitee Leipzig

 

 

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INHALT

Wir laden ein

Rückblick

Neues auf dem Gebiet der Aufarbeitung

Aus der Arbeit der Gedenkstätte

Aus dem Gästebuch

 

 

 

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WIR LADEN EIN

 

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20. MAI 2007, 11.00 UHR / 13.30 UHR / 15.00 UHR

INTERNATIONALER MUSEUMSTAG – SONDERFÜHRUNGEN ZUM THEMA „ZERSETZUNG IN DER DDR. PSYCHOLOGISCHE STRATEGIEN DER STAATSSICHERHEIT IM KAMPF GEGEN DEN FEIND“

Kriminalisierung, Diskreditierung, Entpolitisierung, Neutralisierung – die Liste der Maßnahmen, die vom MfS gegen innere Feinde eingesetzt wurden, ist lang und spiegelt in ihrer vordergründigen Verwendung von Nomen einen makaberen Bürokratismus wider. Es war die Maschinerie der so genannten „Zersetzung“, die sich in Gang setzte und mit Hilfe derer ein Staat mit seinen sämtlichen Macht- und Repressionsmöglichkeiten einzelne Menschen oder ganze Gruppe „eliminieren“ wollte.

 

Operative Psychologie spielte dabei eine entscheidende Rolle. Psychologisches Wissen wurde eruiert und gelehrt, angewendet und evaluiert – mit dem Ziel, Menschen in ihrer Seele anzugreifen und zu zerstören. Zersetzung und Bearbeitung dienten der Ablenkung von oppositionellem Tun und sollten eine Selbstreflexion bewirken, die bestenfalls den völligen Rückzug des Menschen aus „feindlich-negativen“ Kreisen erzwang. Welche konkreten Strategien vom MfS hierzu ein- und umgesetzt wurden und welche Rolle die Psychologie dabei spielte, das sollen Sonderführungen in der „Runden Ecke“ am 20. Mai 2007, dem Internationalen Museumstag, deutlich machen.

 

 

24. MAI 2007, 19.00 UHR

DIE INOFFIZIELLEN MITARBEITER DER STASI

Der Historiker Helmut Müller-Enbergs, Mitarbeiter der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, spricht im Begleitprogramm zur Sonderausstellung „Zimmer, Gespräche“ in der Galerie für Zeitgenössische Kunst über die Inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit.

 

Mit dem MfS und seinen zuletzt 91 000 hauptamtlichen Mitarbeitern verfügte die SED-Führung über einen gigantischen Apparat, der geheimpolizeilich und nachrichtendienstlich die innere und äußere Sicherheit der DDR garantieren sollte. Das wichtigste Instrument waren dabei die Inoffiziellen Mitarbeiter, von denen es zuletzt in der DDR 174.000 und in der Bundesrepublik 3.000 gab. Wie wurde man IM? Was machten die Inoffiziellen? Wo waren ihre Schwerpunkte? Wie spionierten sie in der Bundesrepublik? Helfen die „Rosenholz“-Akten bei der Aufarbeitung weiter? Wie gehen wir heute mit den IM um. Diesen Fragen wird Helmut Müller-Enbergs nachgehen.

 

Die Veranstaltung ist eine Kooperation mit der Galerie für Zeitgenössische Kunst (GfzK) und findet in der GfzK (Karl-Tauchnitz-Straße) statt.

 

 

 

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RÜCKBLICK

 

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29. MÄRZ 2007

HERBERT KAISER UND DER 17. JUNI 1953 IN LEIPZIG

Wilfried Kaiser war zwei Jahre alt, als er seinen Vater zum letzten Mal sah. Am Morgen des 17. Juni 1953 war Herbert Kaiser wie immer zur Arbeit in die Deutsche Handelszentrale in Leipzig gegangen, am Abend aber nicht zurückgekehrt. Auch an den Folgetagen blieb er verschwunden. Alle Erkundigungen der Familie verliefen zunächst erfolglos. Erst mit 17 Jahren, so Wilfried Kaiser, habe er den Mut gehabt, offiziell „nach Berlin“ zu schreiben und sich nach dem Verblieb seines Vaters zu erkundigen. Nach monatelanger Funkstille kam dann 1967 per Post die Todesurkunde, ohne dass darauf die Gründe für das Ableben Herbert Kaisers verzeichnet gewesen wären.

 

Zwei Söhne und ein Cousin Herbert Kaisers berichteten am 29. März 2007 im Museum in der „Runden Ecke“ von ihren Erinnerungen an Kaiser und von den jahrzehntelangen Versuchen, etwas über sein Schicksal zu erfahren. Dies war ihnen letztlich erst nach 1989 mit Hilfe der Historikerin Dr. Heidi Roth geglückt, die eine umfangreiche Publikation zum 17. Juni 1953 in Sachsen veröffentlicht hat. Die Wissenschaftlerin rekonstruierte während der Veranstaltung, die zum Begleitprogramm der Sonderausstellung „Erschossen in Moskau…“ gehörte, die Rolle Herbert Kaisers während des Volksaufstandes.

 

Demnach hatte sich der gelernte Bäcker und spätere Angehörige der Transportpolizei am 17. Juni dem Streik in seinem Betrieb angeschlossen und war mit den Kollegen in die Innenstadt gezogen. Hier beteiligte er sich an einer, so Roth, „spektakulären Aktion“: Gemeinsam mit 60 bis 80 anderen Demonstranten stürmte er am Nachmittag die Zentrale der Transportpolizei auf dem Leipziger Hauptbahnhof, in der er selbst bis 1951 gearbeitet hatte. Die Menge erbeutete 28 Pistolen und 80 Schuss Munition, verlud diese auf ein gekapertes Polizeiauto und verließ damit die Stadt. Eine motorisierte Streife stellte die Demonstranten jedoch bald und nahm sie fest.

 

Herbert Kaiser wurde ausweislich der Akten gegen 23 Uhr in die Untersuchungshaftanstalt in der Leipziger Beethovenstraße eingeliefert und noch in der Nacht verhört. Am Folgetag erließ die Staatsanwaltschaft Leipzig einen Haftbefehl. Man warf ihm Boykotthetze vor; außerdem ließ die Tatsache, dass Kaiser früher bei der Transportpolizei gearbeitet hatte, die Genossen offenbar schlussfolgern, er sei der Rädelsführer der Aktion gewesen. Schon am 19. Juni wurde der dreifache Familienvater an ein Sowjetisches Militärtribunal (SMT) übergeben, das ihn zum Tode verurteilte. Er wurde – wie zwischen 1950 und 1953 üblich – nach Moskau gebracht und dort am 15. Dezember 1953 erschossen.

 

Davon allerdings erfuhren die Söhne Kaisers erst durch ein groß angelegtes Forschungsprojekt und das daraus entstandene Buch „Erschossen in Moskau…“ über die fast 1.000 Deutschen, die in der sowjetischen Hauptstadt nach einem Todesurteil durch ein SMT hingerichtet worden waren. Ihre Kindheit, so erinnerte sich Kaiser, war geprägt durch Armut und frühe Arbeit: „Unsere Mutter verlor nach dem 17. Juni ihre Stelle und konnte die Familie nicht ernähren.“ Also sammelte er schon als Sechsjähriger Flaschen und Gläser, um zumindest ein paar Groschen zum Familieneinkommen beizusteuern. An Ferienlagerbesuche, für manchen Mitschüler selbstverständlich, war nicht zu denken. Stattdessen gingen die Kinder in der schulfreien Zeit arbeiten. Und neben all dem blieb die Frage, wohin der Vater so plötzlich verschwunden war, ob er möglicherweise sogar die Familie verlassen und anderswo ein neues Leben angefangen hatte. Endgültige Klarheit brachten erst der Kontakt zur Historikerin Roth und das Buch „Erschossen in Moskau…“ Für Wilfried Kaisers Mutter kamen die Recherchen zu spät: Sie war bereits 1989 verstorben.

 

 

4. APRIL 2007

4 SCHÜLER GEGEN STALIN

„Meine Herren, den ersten haben wir überlebt.“ Diesen sarkastischen Kommentar zum Ableben Josef Stalins hörte Jörn-Ulrich Brödel 1953 von einem Mitinhaftierten. Vier Jahre vorher, im Dezember 1949, hatte Brödel zusammen mit Freunden von der Altenburger Karl-Marx-Oberschule eine illegale Radiosendung zum 70. Geburtstag des sowjetischen Staatschefs ausgestrahlt und war drei Monate später dafür verhaftet worden. Ein sowjetisches Militärtribunal verurteilte ihn und seine Mitschüler zu langjährigen Haftstrafen – den Sprecher der Radiosendung, Joachim Näther, sogar zum Tode. Er wurde nach Moskau überstellt und dort im Dezember 1950 erschossen.

 

Sowjetische Militärtribunale nahmen sich in den Anfangsjahren der DDR noch ganz selbstverständlich das Recht heraus, über Bürger des eigentlich souveränen Staates zu urteilen. Mit den „Gummiparagraphen“, nach denen sie richteten, so der Historiker Enrico Heitzer am Abend des 4. April 2007 im Museum in der „Runden Ecke“, „ließ sich fast jedes beliebige Verhalten kriminalisieren. Sie seien damit wirksame Instrumente gewesen, um jeglichen Widerstand gegen die sowjetische Besatzungsmacht zu brechen.

 

Heitzer moderierte einen Abend, der sich der Altenburger Radio-Aktion anlässlich Stalins Geburtstag widmete. Die Veranstaltung gehörte zum Begleitprogramm der Sonderausstellung „Erschossen in Moskau…“ und begann mit einem Film über jenen Abend, an dem Jörn-Ulrich Brödel, Ulf Uhlig, Joachim Näther und Gerhard Schmale die Einzelteile eines selbst gebauten Radiosenders zusammensetzten und in einer eigens verfassten Rede den Jubilar als „Massenmörder“ und „Diktator“ bezeichneten. Gebaut hatte das Gerät der Hobbyfunker Schmale; der Text stammte von dem literarisch ambitionierten Näther. Die vier Schüler gingen genau dann auf Sendung, als im Fernsehen republikweit die Gratulationsrede des DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck übertragen wurde. Doch statt der offiziellen sozialistischen Grußworte hörte man in Altenburg und Umgebung die unverblümte Kritik der Pennäler.

 

Die Einzelteile ihres Senders – von dem ein Nachbau zur Veranstaltung in der „Runden Ecke“ ausgestellt war – versteckten die Schüler anschließend an unterschiedlichen Orten. Lange sah es so aus, als ob die Staatsmacht ihnen nicht auf die Spur kommen würde. Doch drei Monate später wurden die Protagonisten – teilweise auf offener Straße vom Weg zur Schule weg – verhaftet. Auslöser, so Heitzer, war offenbar eine Denunziation. Die Verhaftungen betrafen außer den vier Funkern auch die Mitglieder einer weiteren Oppositionsgruppe an der Altenburger Oberschule, von deren Existenz Brödel und seine Freunde bis dato gar nichts gewusst hatten. Anschließend folgte eine Säuberungswelle an der gesamten Schule.

 

Für die vier Schüler war die Radiosendung nicht die erste widerständische Aktion. Schon länger, so berichtete Jörn-Ulrich Brödel während der Veranstaltung, hatten sie mit der westberliner Kampfgruppe gegen Ungerechtigkeit (KgU) in Verbindung gestanden. Anfangs eine Art Suchdienst für in der Sowjetischen Besatzungszone Verhaftete, förderte die KgU zunehmend oppositionelles Verhalten in der DDR, teilweise auch ohne Rücksicht auf die Gefahren, denen sich die Protagonisten aussetzten. Bekanntestes Symbol der Organisation war ein großes „F“, das für „Freiheit“ oder auch „Feindschaft gegen die Sowjetunion“ stand. Diesen Buchstaben malten Brödel und die anderen Gruppenmitglieder in Altenburg nachts mehrmals an die Fassade der SED-Kreisleitung. „Wir wollten demonstrieren, dass es Menschen gibt, die nicht mit der SED-Linie übereinstimmen“, berichtete Brödel in der „Runden Ecke“. Diese Aktion erregte natürlich einiges Aufsehen, genauso wie die Bemühungen der angeforderten Reinigungsbrigade, die Farbe wieder zu entfernen.

 

Was hatte die damals gerade erwachsen Gewordenen zum Widerstand motiviert? „Wir haben unsere Eltern immer gefragt, was sie gegen das Hitler-Regime getan haben und wollten später von unseren Kindern nicht ebenfalls gefragt werden, warum wir nichts gegen die Diktatur unternommen hätten“, erklärte Brödel seine Beweggründe. „Das Schlimmste für mich war zu erfahren, dass das KZ Buchenwald unmittelbar nach Kriegsende von den Sowjets als Speziallager genutzt wurde“, erinnerte sich Gerhard Schmale an sein Entsetzen über das offenbar nahtlose Anknüpfen an totalitäre Traditionen aus der NS-Zeit.

 

Wolfgang Enke war 1949 noch nicht an der Karl-Marx-Oberschule. Sein älterer Bruder war allerdings ein Klassenkamerad von Näther und den anderen. „Er flüchtete vorerst nach Westberlin, weil er eine große Verhaftungswelle fürchtete, obwohl er gar kein Mitglied der Gruppe war“, berichtete Enke, vor dem die Familie die Angelegenheit eigentlich geheim halten wollte, der aber dennoch genügend hörte, um sich einen Reim zu machen. Erst nach 1989, er war inzwischen Lehrer an der Oberschule in Altenburg, befragte er seinen Bruder erstmals zu den Ereignissen. Die Geschichte ließ ihn nicht los, und nach und nach konnte er Kontakt zu praktisch allen seinerzeit Beteiligten aufnehmen und diese wieder zusammenbringen. „Meine Kollegen“, erinnert sich Enke, „waren übrigens gar nicht von meinen Recherchen begeistert und wollten um das Thema lieber einen Bogen machen.“

 

 

13. APRIL 2007

DIE KINDER DER ERSCHOSSENEN

Eine Gruppe aus Deutschland – die Teilnehmer kannten sich bis dato nicht – reist gemeinsam nach Moskau. Ihr Ziel sind nicht die Sehenswürdigkeiten der russischen Hauptstadt, sondern ein Friedhof namens Donskoje. Hier wird ein Gedenkstein eingeweiht, der künftig an fast 1.000 Tote erinnern soll, darunter auch die Eltern der Gäste aus Deutschland. Der Film „Die Kinder der Erschossenen“ begleitete Angehörige der Opfer sowjetischer Militärjustiz bei der Spurensuche nach ihren jahrzehntelang verschollenen Familienmitgliedern. Am 13. April 2007 war er in der Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ zu sehen, wo er im Begleitprogramm der Sonderausstellung „Erschossen in Moskau…“ lief.

 

Die Menschen, die im Film zu Wort kamen, hatten erst nach 1989 Klarheit über das Schicksal von Verwandten erhalten, die Jahrzehnte zuvor regelrecht über Nacht verschwunden waren. Sowjetische Militärtribunale hatten sie zum Tode verurteilt, nach Moskau verschleppt, erschossen und auf dem Donskoje-Friedhof verscharrt – ebenso wie Hunderte andere Deutsche in den Jahren zwischen 1950 und 1953. Es sei ihm ein drängendes Anliegen gewesen, berichtete einer der Gefilmten, endlich den Ort aufzusuchen und mit eigenen Augen zu sehen, an dem sein Vater seine letzte Ruhe gefunden hatte. Ein anderer Befragter wiederum hatte sich den Reisenden nicht angeschlossen – für ihn war es undenkbar, dort stehen zu müssen, wo sein Vater einst erschossen worden war.

 

Über die Strategien, mit dem plötzlichen Verschwinden von Familienangehörigen umzugehen, sprach im Anschluss an den Film der Psychologe Dr. Stefan Trobisch-Lüdge. Schon während der Dokumentation war deutlich geworden, dass der Vorfall das Leben der Hinterbliebenen in jedem Fall drastisch beeinflusst hatte, doch reagierten die Betroffenen in ganz unterschiedlicher Weise. „Posttraumatische Belastungsstörungen“ nannte Trobisch-Lüdge die Auswirkungen der Familientragödien und referierte über die Bandbreite in solchen Fällen beobachteter Reaktionen – von völligem Rückzug bis hin zu Sicherheitsphobien, aufgrund derer die betreffenden Personen später den Beruf von Polizisten oder Feuerwehrleuten erlernten. Solche Traumata, so der Psychologe, könnten sogar unbewusst bis in die dritte Generation nachwirken, und so saßen denn am 13. April auch einige Enkel von in der Sowjetunion Hingerichteten im ehemaligen Stasi-Kinosaal der „Runden Ecke“.

 

Von ihren Erinnerungen an die Zeit, nachdem Familienmitglieder plötzlich verschwunden waren und an die jahrelange Suche berichteten während der Veranstaltung zwei Kinder von Hingerichteten: Jürgen Schreiber und Peter Liebscher. Die beiden hatten sich erst nach 1989 kennen gelernt, obwohl ihre Eltern zusammen verhaftet worden waren. Jürgen Schreiber wuchs ohne Vater auf, Peter Liebscher verlor sogar beide Eltern an die sowjetische Militärjustiz und lebte bei seinen Großeltern. Beide Männer pflegten und pflegen einen sehr offenen Umgang mit den Geschehnissen, und in beiden Familien gab es das Gefühl, dass ihren Angehörigen zwar Unrecht zugestoßen sei, sie aber nicht umsonst gestorben seien.

 

Er habe sehr wohl gewusst, dass seine Eltern sich oppositionell engagierten, berichtete Liebscher. Schließlich hatte die Mutter ihn manchmal sogar zu Flugblattübergaben mitgenommen, beispielsweise in die Kaufhalle, um nach außen einen normalen Einkauf mit Kind vorzutäuschen. Jürgen Schreibers Vater war im Oktober 1952 wegen Spionage für ausländische Geheimdienste und der Vorbereitung von Sabotageanschlägen verurteilt worden. Davon erfuhr der Sohn aber erst nach dem Ende der DDR. Jahrelang, so berichtete er in der „Runden Ecke“, habe er sich an die Idee geklammert, sein Vater müsse eine Arbeitslagerstrafe ableisten. Über das Deutsche Rote Kreuz in Genf und das sowjetische Generalkonsulat erfuhr er schließlich die Wahrheit.

 

Auch im Publikum saßen Angehörige von in Moskau Hingerichteten, sodass sich zum Abschluss eine rege Diskussion entspann. Erst nach drei Stunden waren alle Fragen der Zuhörer, die ein großes Interesse am Schicksal der Hinterbliebenen zeigten, beantwortet.

 

 

19. APRIL 2007

SOWJETISCHE MILITÄRGERICHTE ALS ELEMENTE KOMMUNISTISCHER DIKTATURDURCHSETZUNG IN SACHSEN

35 000 Verurteilungen und annähernd 2000 Hinrichtungen sind die Bilanz der sowjetischen Militärjustiz zwischen 1945 und 1955 im Gebiet der SBZ/DDR; sie entsprangen einem Import sowjetischen Gerichtswesens nach der Besetzung Ostdeutschlands durch die Rote Armee und sollten die sowjetische Besatzungspolitik sowie den darauf gründenden Aufbau der SED-Diktatur mit allen Mitteln – darunter vornehmlich repressive – absichern.

 

Gemäß den Worten des Historikers Dr. Mike Schmeitzner vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden, der am Abend des 19.04.2007 im Museum in der „Runden Ecke“ zum Thema „Sowjetische Militärgerichte als Element kommunistischer Diktaturdurchsetzung in Sachsen“ referierte, übernahmen so genannte Sowjetische Militärtribunale (SMT) die „Drecksarbeit“, die für die Schaffung der DDR aus Sicht der Sowjetunion unerlässlich war. Dies sei keinesfalls eine „Sturzgeburt“ in Folge des Zweiten Weltkrieges gewesen, so der Historiker weiter, sondern wäre tief in den revolutionären Unruhen des Russlands von 1917 verwurzelt. Eine weitere Ausgangsbedingung seien alliierte Abkommen gewesen, die eine internationale Rechtsgrundlage schufen, gleichzeitig aber beinahe deckungsgleich durch das sowjetische Justizwesen ausgefüllt wurden. Gummiparagraphen dieses Systems seien dann auch in der SBZ/DDR zum Einsatz gekommen – immer unter der Prämisse des Kampfes gegen Reste des nationalsozialistischen Systems, was allerdings nicht immer vordergründig war.

 

In den meisten Fällen war Schmeitzner zufolge die „Brechung von demokratischem Widerstand“ Ziel der Gerichtsprozesse. Das sei eine „Sicherheitsphobie [gewesen], die teilweise irrationale Züge enthielt“, nachzuvollziehen beispielsweise daran, dass so gut wie keine Verteidiger zugelassen worden sind. Auch die Vernachlässigung einer explizit ostdeutschen Justiz bis mindestens 1950/51 ließe sich in diesen Zusammenhang einordnen, und der Referent erläuterte später auch an verschiedenen Statistiken die erst danach langsam beginnende Übergabe an deutsche Gerichte.

 

Im Vordergrund hätte zunächst die Schaffung einer gesicherten Grundlage gestanden, weswegen auch insbesondere Sozialdemokraten und Jugendorganisationen anderer Parteien als der SED kontinuierlich boykottiert und schließlich de facto beseitigt worden seien. Schmeitzner sprach von einer „Enthauptung der Jugendverbände“ und fügte mit diesen Darstellungen, wie er sagte, der quantitativen auch eine qualitative Seite hinzu. Grundsätzlich wurden alle nichtkonformen Haltungen bestraft und so Widerstände und Hemmnisse auf dem Weg zur Diktatur ausgeräumt, resümierte der Forscher seine Ergebnisse zu diesem Punkt.

 

Dass dies auch in Leipzig geschah, wies er an Hand von drei ausgewählten Einzelfällen nach, von denen einer sogar in Dresden in der gleichen Zelle auf sein Urteil warten musste wie schon Jahre zuvor unter der Herrschaft der Nationalsozialisten. Leider sei die Sachlage bezüglich der damaligen Haftorte, so genannte GPU-Keller, für Leipzig noch nicht so klar wie beispielsweise in Dresden und mit einem Blick auf Moderator Tobias Hollitzer vom Bürgerkomitee deutete er die Möglichkeit einer zukünftigen Zusammenarbeit bei entsprechenden Forschungen an.

 

 

21. APRIL 2007

ACHTE LEIPZIGER MUSEUMSNACHT „DIE STASI – DAS AUGE DER PARTEI“

Lange Warteschlagen bildeten sich am 21. April 2007 auf der Arndtstraße in der Leipziger Südvorstadt. Fast 850 Menschen wollten während der achten Leipziger Museumsnacht die ehemalige zentrale Hinrichtungsstätte der DDR sehen. Mitarbeiter des Bürgerkomitees führten von 18 Uhr bis Mitternacht durch die originalen Räume. Zu sehen war außerdem die Ausstellung „Todesstrafe in der DDR – Hinrichtungen in Leipzig“. Die Interessenten erfuhren Details über die historische Entwicklung der Todesstrafe, über die rechtlichen Hintergründe, die politische Instrumentalisierung und über die konkreten Umstände, unter denen zwischen 1960 und 1981 64 Menschen in Leipzig hingerichtet worden waren.

 

Das Interesse der Museumsnachts-Besucher war groß, und es äußerte sich auch im ehemaligen Stasi-Kinosaal in der „Runden Ecke“, wo während des Abends ein Film-, Führungs- und Vortragsprogramm lief. Höhepunkt war eine exklusive Preview des Films „Unerwarteter Nahschuss“ aus der Serie „SOKO Leipzig“. Er spielt teilweise in der ehemaligen Hinrichtungsstätte, in der sich am Tag des offenen Denkmals mitten in einer Führung ein Mord ereignet. Die SOKO ermittelt zu den Hintergründen und stößt auf Beteiligte, die schon zu DDR-Zeiten mit dem Thema Todesstrafe zu tun hatten.

 

Während des Abends liefen weiterhin die Dokumentationen „Todesstrafe in der DDR“ sowie „Damals in der DDR – Staat am Ende“, ein Film über den Sturz der SED-Herrschaft im Jahr 1989. Im Programm war außerdem der MfS-Schulungsfilm „Der Revisor“, mit dem die Staatssicherheit ihre Mitarbeiter für konspirative Wohnungsdurchsuchungen schulte.

 

Zahlreiche Besucher ließen sich auch durch die Sonderausstellung „Erschossen in Moskau…“ führen. Sie dokumentierte das Schicksal von annähernd 1.000 Deutschen, die zwischen 1950 und ´53 von sowjetischen Militärtribunalen zum Tode verurteilt und zur Vollstreckung nach Moskau gebracht worden waren. Details über die konspirative Technik der Staatssicherheit wiederum erfuhren die Gäste während eines Vortrags des Sammlers Detlef Vreisleben, der seine Zuhörer anhand von Fotos und Dokumenten in die Geheimnisse von MfS-Observationstechnik einweihte.

 

„Augen auf!“ lautete das Motto der achten Museumsnacht, und unter dem speziellen Titel „Die Stasi – Das Auge der Partei“ präsentierte das Museum in der „Runden Ecke“ ausgewählte Aspekte seiner Dauerausstellung. Der heimliche Blick in Briefe und Pakete, konspirative Fotos aus Taschen und Jacken heraus, Oppositionelle unter ständiger Kontrolle – die Staatssicherheit hatte ihre Augen überall. Witterte sie „staatsfeindliche“ Aktionen, schreckte sie auch vor so genannten Zersetzungsmaßnahmen – der psychischen Manipulation von Verdächtigen – nicht zurück. Doch die Überwachten hielten ebenfalls die Augen offen und machten im Herbst ´89 ihrem Unmut über das jahrelang gesehene Unrecht Luft. All diese Aspekte des Überwachungsstaats DDR konnten Besucher während der Museumsnacht im Rahmen von ständigen Führungen durch das Museum in der „Runden Ecke“ kennen lernen.

 

Insgesamt kamen fast 2.700 Besucher kamen zur Museumsnacht in die „Runde Ecke“, den ehemaligen Stasi-Kinosaal und die ehemalige Hinrichtungsstätte.

 

 

26. APRIL 2007

HERBERT BELTER UND DER WIDERSTAND AN DER LEIPZIGER UNIVERSITÄT

Der Lehrbetrieb an der Leipziger Universität lief nach Ende des Zweiten Weltkriegs kaum wieder in halbwegs geordneten Bahnen, da griff auch schon die Stalinisierung voll durch: In mehreren Verhaftungswellen wurden unliebsame Studenten von der Hochschule entfernt, der Druck zum Eintritt in die Freie Deutsche Jugend (FDJ) nahm stetig zu, ebenso wie der Zwang zu so genannter „Gesellschaftlicher Arbeit“. Im November 1948 wurde schließlich der frei gewählte Studentenrat – bis dahin ein für die Studentenschaft immanent wichtiges und verbindendes Gremium – aufgelöst und stattdessen zu fast hundert Prozent mit FDJ-Mitgliedern neu besetzt.

 

In dieser Situation kam 1949 der gebürtige Greifswalder Herbert Belter an die Leipziger Hochschule. Den Stalinisierungsmaßnahmen stand er kritisch gegenüber und scharte bereits nach kurzer Zeit Gleichgesinnte um sich, so der langjährige Leiter des Universitätsarchivs, Dr. Gerald Wiemers, der ausführlich zu Belter und dessen Widerstandsgruppe geforscht hat. Über das Schicksal dieser Studenten sprach er am 26. April im ehemaligen Stasi-Kinosaal im Museum in der „Runden Ecke“. Die Veranstaltung gehörte zum Begleitprogramm der Sonderausstellung „Erschossen in Moskau…“

 

Die Gruppe um Belter, die sich selbst gar nicht als „Gruppe“ empfand, verteilte innerhalb der Fakultät Flugblätter des RIAS (Rundfunk im Amerikanischen Sektor), der in der DDR als Feindsender schlechthin gehandelt wurde, und lieferte auch Informationen an die Radiostation. Zurück aus den Semesterferien berichtete Belter im Sommer 1950 im privaten Kreis über seinen Plan, eine Flugblattaktion gegen das kommunistische Regime zu starten. Anlass war die erste Volkskammerwahl, die im Oktober anstand und den Bürgern die erste Einheitsliste anstelle eines echten Wahlrechts präsentieren sollte – auch nach der damaligen Verfassung ein klarer Rechtsbruch.

 

Am 4. Oktober klebte Belter zusammen mit Freunden Flugblätter und wurde noch auf dem Heimweg verhaftet. Die vermeintlich staatsfeindlichen Materialien, die man am Folgetag bei der Durchsuchung seiner Wohnung fand, reichten für eine Anklage aus. Zusammen mit neun weiteren Festgenommenen wurde Belter an ein Sowjetisches Militärtribunal übergeben und zum Prozess nach Dresden überstellt, laut Wiemers „nicht mehr als eine Farce“. Innerhalb von nur zwei Tagen waren gegen Belters das Todesurteil und gegen die meisten Mitangeklagten Freiheitsstrafen in Höhe von 25 oder sogar zweimal fünfundzwanzig Jahren ausgesprochen. Sie alle verschwanden anschließend spurlos, bis 1953 die ersten aus sowjetischen Arbeitslagern nach Hause zurückkehrten. Das Schicksal von Herbert Belter, so Wiemers, klärte sich erst nach 1989. Mit der Öffnung russischer Archive konnte ermittelt werden, dass er am 28.04.1951 in Moskau hingerichtet worden war.

 

Werner Gumpelt gehörte zu den Freunden Belters, die gemeinsam mit ihm verhaftet worden waren. Vier Tage, so berichtete der spätere Hochschulprofessor zur Veranstaltung in der „Runden Ecke“, habe er in Leipzig im Gefängnis gesessen, dann wurde er an die Sowjets übergeben. „Entlassen, an die Freunde“, las Gumpelt dazu später in seinen Stasi-Akten. Aus dem sowjetischen Lager Workuta durfte er erst 1954 an seine Familie schreiben, freilich ohne zu erwähnen, wo er sich befand. Wie ernst es das Tribunal mit dem hohen Strafmaß meinte, hatten er und die Mitverurteilten erst nach der Ankunft in der SU erst wirklich realisiert. „ Wir waren damals 20, 21 Jahre alt“, sagte Siegfried Jenkner, auch er später Professor an einer bundesdeutschen Universität, „da war ein Strafmaß von 25 absolut unvorstellbar.“

 

Ernst Friedrich Wirth bezeichnet die lange Haftstrafe im Rückblick als „Glück“, denn er war ursprünglich ebenso wie Belters zum Tode verurteilt und erst später in Moskau zu Zwangsarbeit „begnadigt“ worden. Wirth hatte einer Meuselwitzer Widerstandsgruppe angehört, deren Mitglieder sich in der Sowjetischen Besatzungszone „eingeengt, eingezwängt“ fühlten. Als ernsthafte Opposition mochte Wirth die Aktivitäten der Jugendlichen aber nicht bezeichnen: „Wir waren 15, 16 damals, also praktisch noch Kinder. Es war ein bisschen wie Räuber und Gendarm spielen.“ Die Gruppe löste sich nach dem Abitur auf, Wirth ging nach Leipzig zum Studium. Erst dort wurde er verhaftet – unmittelbar von den Sowjets – und wegen seiner drei Jahre zurückliegenden Aktionen in Meuselwitz verurteilt: „Für Vergehen, für die man nach Strafgesetzbuch nicht einmal Geldstrafe hätte zahlen müssen.“

 

Alle drei Zeitzeugen gingen nach ihrer Entlassung aus sowjetischer Gefangenschaft in die Bundesrepublik. Dort seien sie sehr freundlich empfangen worden, berichteten die Männer übereinstimmend. „Vor allem bin ich sofort in die Lage gekommen, meine persönliche Geschichte in einen wissenschaftlichen Kontext zu setzen und so aufzuarbeiten“, berichtete Jenkner vom wohl wichtigsten Grund dafür, dass die Vergangenheit ihm heute nicht mehr als Alptraum vor Augen steht. Allerdings, so Gumpelt, sei er mit seinem Schicksal nach anfänglichem Interesse immer seltener auf offene Ohren gestoßen. In Zeiten der Entspannungspolitik brandmarkte man ihn sogar als „Kalten Krieger“.

 

Welche mentale Bedeutung nach 1989 die Rehabilitation für die Zeitzeugen gehabt habe, wollte ein Veranstaltungsbesucher in der abschließenden Diskussion wissen. „Überhaupt keine“, antwortete Wirth. „Wenn man sich nicht schuldig fühlt, bringt eine spätere Reha gar nichts.“ Aus praktischer Sicht, ergänzte Jenkner, habe sie allerdings Vorteile gehabt: „Ich wollte erst nicht an die Rehabilitation heran, habe sie dann aber doch beantragt, um meine Akten einsehen zu können.“ Heute empfiehlt er auch allen andern Betroffenen oder Angehörigen nachdrücklich, diesen Weg zu gehen.

 

 

 

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NEUES AUF DEM GEBIET DER AUFARBEITUNG

 

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NEUER AKTENFUND IM FALL HAGEN BOSSDORF – ARD MUSS ENDLICH FAKTEN UND NAMEN OFFENLEGEN

Ein neuer Aktenfund in der Birthler-Behörde im Fall Hagen Boßdorf unterstrich es im vergangenen Monat wieder einmal: Die ARD sollte in Bezug auf die Stasi-Vergangenheit von Mitarbeitern schleunigst die Karten auf den Tisch legen, und einen seit Jahren vorliegenden Forschungsbericht zu diesem Thema endlich vollständig veröffentlichen. Eine Gruppe von Historikern des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin legte bereits Mitte 2004 eine ausführliche Untersuchung vor, die der Sender bisher jedoch nur in einer Zusammenfassung für Journalisten freigegeben hat. Nun sei geplant, diese Studie nur anonymisiert zu veröffentlichen.

 

Aus Sicht des Bürgerkomitees haben die Gebührenzahler jedoch ein Recht darauf, die Ergebnisse dieses mit ihren Mitteln finanzierten Forschungsprojektes umfänglich, vollständig und unter Nennung der Namen der Stasi-Mitarbeiter zur Kenntnis zu bekommen.

 

NEUE UNTERLAGEN BELEGEN: BOSSDORF WAR IM „FLORIAN WERFER“ DER DDR-STAATSSICHERHEIT

Die Personalie Hagen Boßdorf ist erneut ein deutliches Argument für eine rückhaltlose Aufklärung der MfS-Vergangenheit von ARD-Journalisten. Weil aus den zunächst spärlich vorliegenden Akten nichts Handfestes zu beweisen war, stritt Boßdorf seine Tätigkeit für die Auslandsspionage der Staatssicherheit ab: Er habe keine Aufträge erhalten, habe nur ein einziges mal über Kommilitonen berichtet und den Decknamen „Florian“ niemals verwendet. Wie sich nun herausstellt, war dies alles schlicht gelogen, denn in der jetzt aufgefundenen Akte sind – wie die Tageszeitung „Die Welt“ berichtete – konkrete Aufträge des damaligen Journalistikstudenten für die Spionageabteilung des DDR-Sicherheitsapparates ebenso belegt, wie von Boßdorf geschriebene und mit dem Decknamen „Florian“ unterzeichnete Berichte und eine Quittung für Geldleistungen zur Realisierung eines „operativen Auftrages“.

 

NICHT DIE AKTEN LÜGEN, SONDERN DIE INOFFIZIELLEN MITARBEITER

Im Jahr 2002 tauchte in den Beständen der ehemaligen Leipziger Spionageabteilung eine Karteikarte mit Decknamen und Registriernummer auf, und in der damals gerade entschlüsselten Datenbank „SIRA“ war diese Informationen ebenfalls erfasst. Hagen Boßdorf aber stritt alles ab, und man glaubte ihm. Jahre später wurden bei der Aktenerschließung die Unterlagen der von Hagen Boßdorf bespitzelten Göttinger Studentin gefunden. Auch in Arbeitsplänen der Abteilung sowie in anderem administrativen Schriftgut war er verzeichnet. Selbst als die Akte des IM gefunden wurde, der den späteren IM „Florian Werfer“ für das MfS „tippte“, leugnete Boßdorf mit eidesstattlichen Versicherungen und Gegendarstellungen. Selbst sein damaliger Führungsoffizier wurde aufgeboten, um die aufgefunden Akten als Fälschung darzustellen.

 

Die Geschichte zeigt exemplarisch, wie ehemalige Inoffizielle Mitarbeiter sich persönliche Aufarbeitung vorstellen: Nur das zugeben, was sich anhand von Akten unumstößlich beweisen lässt, alles andere vehement leugnen und darauf vertrauen, dass kein weiteres Beweismaterial zutage befördert wird. Oft muss zusätzlich die Mutmaßung herhalten, die MfS-Akten seien ohnehin reihenweise gefälscht. Allerdings belegt gerade die causa Boßdorf das Gegenteil, denn die Erkenntnisse aus dem neu ausgewerteten Material fügen sich passgenau in das bisher nur splitterhafte Bild ein.

 

BSTU MUSS AKTENERSCHLIESSUNG DEUTLICH FORCIEREN

So sind die neuen Informationen zu Hagen Boßdorf nicht nur ein Argument für die Veröffentlichung des eingangs erwähnten Forschungsberichts, wozu das Bürgerkomitee die ARD-Intendanz nachdrücklich auffordert. Sie belegen auch, wie wichtig die offenen Stasi-Akten bis heute sind, weil sich anhand dieser Quellen historische Wahrheiten ermitteln lassen, wo ohne sie der Legendenbildung Tür und Tor geöffnet wäre. Die Aufarbeitung der Akten muss daher in der BStU auch in Zukunft höchste Priorität haben, denn noch immer sind tausende Meter Akten unerschlossen. Fast 10.000 Säcke mit zerrissenen Akten harren der Rekonstruktion.

 

In vielen anderen prominenten Fällen ist die Aktenlage bisher ähnlich: Es liegen nur Aktenbruchstücke vor, sodass die Betreffenden bisher ihre Stasi-Kontakte erfolgreich verharmlosen konnten.

 

 

 

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AUS DER ARBEIT DER GEDENKSTÄTTE

 

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KOOPERATION MIT GALERIE FÜR ZEITGENÖSSISCHE KUNST

In der Galerie für Zeitgenössische Kunst (GfzK) Leipzig läuft noch bis zum 1. Juli die Ausstellung „Zimmer, Gespräche“ der spanischen Künstlerin Dora García. Die Exposition entstand unter anderem in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“.

 

Dora García nutzt den Ausstellungsraum als Plattform, um das Verhältnis von Besuchern, Kunstwerk und Ort zu durchleuchten. Hierfür bedient sich die Künstlerin oft der Performance und der Interaktion. Der Raum wird durch schlichte Eingriffe und Veränderungen zu einem Erlebnisraum, den jeder Besucher mit einer veränderten Wahrnehmung oder zumindest einer Portion Skepsis wieder verlässt. Durch die Arbeiten von Dora García erhalten wir ein Bewusstsein, selbst kleinste Zeichen als Bedeutungsträger zu lesen. Die Künstlerin beschäftigt sich mit der Frage nach dem, was real und was Fiktion ist. So werden Besucher zu Akteuren einer Fiktion: manchmal wissend, manchmal nicht.

 

Auf der Suche nach Informationen über die Stadt Leipzig stieß Dora García während ihres Blinky Palermo Stipendiums der Ostdeutschen Sparkassenstiftung gemeinsam mit der Sparkasse Leipzig auf das Museum in der „Runden Ecke”, recherchierte über die Stasi und die Ereignisse des Jahres 1989 in Leipzig. Ihre in der GfZK ausgestellte Arbeit setzen sich mit der Geschichte der Staatssicherheit auseinander und beschäftigt sich mit Methoden der Überwachung.

 

Im Rahmen des Stipendiums entwickelte Dora García aus dieser Recherche eine fiktive Geschichte und setzte sie mit SchauspielerInnen in Leipzig um. Daraus ging der Film „Zimmer, Gespräche“, der auch der Titel der Ausstellung ist, hervor. Anhand von originalen Textmitschnitten und Dokumenten hat García in einer Wohnung Dialoge zwischen „Opfer, Kollaborateur und Stasimitarbeiter” inszeniert. Die Wörter Stasi, DDR oder Leipzig fallen nicht. Dora García bedient sich der Elemente des „Absurden Theaters” sowie des Wechsels von Zeit und Ort, Rollen, Sprache und Bedeutung. Es geht ihr nicht darum, eine historische Szene nachzubauen. Vielmehr treten die Themen Angst, Kontrolle, Abhängigkeit, Absurdität und Macht in den Vordergrund der Betrachtung. Die eingeschriebenen Codes einer Figur und deren Kommunikationsstruktur werden in der Arbeit ebenso analysiert wie in vorherigen Arbeiten auch. Die Schauspieler schlüpfen in Rollen, die selbst wiederum „nur“ eine Rolle spielten.

 

Der Film „Zimmer, Gespräche“ wird von mehreren Videos und Fotos begleitet. Die Videos „window“, „car“, „walking man“, „couple“ oder „house“ (alle 2007) zeigen Menschen bei alltäglichen Handlungen. Sie verlassen oder betreten ein Haus, sie waschen ihr Auto, sie laufen die Straße auf und ab, sie gehen vom Auto in das Haus usw. Meist ohne Ton observiert die offensichtlich für die Beobachteten unsichtbare Kamera ein Geschehen durch Vorhänge von Fenstern aus. Zeichnungen zeigen anschaulich den Weg und die Frequenz der Benutzung durch den Observierten. Die Videos stammen aus dem Archiv der BStU Leipzig/Berlin. García hatte zu Forschungszwecken eine Vielzahl der Überwachungsvideos und das Lehrmaterial der Stasi gesichtet und stellt diese im Kontext der Ausstellung zur Diskussion. Durch den Kontexttransfer verstärkt sich die Wirkung des Absurden und Grotesken. García, die sich in früheren Arbeiten oder auch in „Instant Narrative“ – einer Arbeit, die sie auch in Leipzig zeigt – bereits mit Observierung, Performance, Fiktion und Dokumentation beschäftigt hat, setzte dies in Leipzig fort. Dass sie Spanierin und nicht in der DDR aufgewachsen ist, erlaubte ihr eine Distanz zur Stasivergangenheit.

 

 

SONDERAUSSTELLUNG „ERSCHOSSEN IN MOSKAU…“ JETZT IN OELSNITZ

Die Sonderausstellung „Erschossen in Moskau…“ ging am vergangenen Sonnabend zu Ende. Einen Monat lang war sie im ehemaligen Stasi-Kinosaal im Museum in der „Runden Ecke“ zu sehen. Mehr als 1.600 Menschen besuchten die Exposition und informierten sich über das Schicksal der annähernd 1.000 Deutschen, die zwischen 1950 und 1953 von Sowjetischen Militärtribunalen zum Tode verurteilt, nach Moskau verbracht und dort hingerichtet worden waren. Unter den Besuchern waren auch zahlreiche Schüler, die im Rahmen einer Führung durch die Gedenkstätte auch die Sonderausstellung besichtigten.

 

„Erschossen in Moskau…“ soll als Wanderausstellung noch an möglichst vielen Orten zu sehen sein und steht momentan in Oelsnitz.

 

 

 

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AUS DEM GÄSTEBUCH

 

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Mehrere tausend Menschen besuchen monatlich die Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ mit dem Museum im Stasi-Bunker. Manche leben in Leipzig und kommen – häufig mit Gästen – immer wieder in die Ausstellung. Andere kommen von weit her zu Besuch in die Stadt und wollen hier sehen, wo und wie vormals das berüchtigte Ministerium für Staatssicherheit arbeitete.

 

Viele unserer Besucher hinterlassen eine Notiz im Gästebuch und schreiben hier ihre Eindrücke nieder, die sie in der Gedenkstätte gesammelt haben. Unter dieser Rubrik wollen wir monatlich einige dieser Einträge an Sie weitergeben.

 

„Als Student der Geschichte erfasst mich immer wieder besondere Beklemmung, wie mit ‚unserer’ deutsch-deutschen Geschichte umgegangen wird. Mein Gesamteindruck, entstanden beim Besuch vieler Gedenkstätten, ist: es soll vergessen werden! Allen mutigen und entschlossenen Menschen, die dagegen ihre Tatkraft stellen, möchte ich danken und hoffe, dass es mit der Zeit noch mehr werden, die fragen, aufarbeiten und mit ihren Ergebnissen öffentlich wirksam werden.“

Eintrag eines Besuchers vom 03.04.2007

 

„Eine gute und zugleich bedrückende Ausstellung. Ich habe es zwar selber nicht erlebt, aber diese Ausstellung hat mir das Geschehene näher gebracht.“

Eintrag eines Besuchers vom 04.04.2007

 

„Gut, dass es Ihr Museum gibt. Als Kind der DDR mit derzeitigem Wohnort im „Westen“, Bochum, ist es immer wieder gut zu sehen, was es in meiner Heimat in der Vergangenheit für Untaten gab. Bitte arbeiten Sie weiterhin so genau, damit wir Kinder der DDR und unsere Kinder erfahren, was alles passieren kann.“

Eintrag eines Besuchers vom 08.04.2007

 

„Es ist interessant, mal einfach die erschreckende Wahrheit zu erfahren.“

Eintrag eines Besuchers vom 08.04.2007

 


 



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Die Arbeit des Bürgerkomitees wird gefördert durch die Stiftung Sächsische Gedenkstätten aus Mitteln des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien auf der Grundlage eines Beschlusses des Deutschen Bundestages und des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst sowie durch die Stadt Leipzig und den Kulturraums Leipziger Raum.

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Bürgerkomitee Leipzig e.V.
für die Auflösung der ehemaligen Staatssicherheit (MfS)
Träger der Gedenkstätte
Museum in der „Runden Ecke“ mit dem Museum im Stasi-Bunker
Dittrichring 24, PSF 10 03 45, D-04003 Leipzig
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