headertop
 
 
   
 

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

 

Ende April steht wieder eine „Nachtschicht“ ins Haus. Zahlreiche Leipziger Museen öffnen von 18.00 Uhr bis Mitternacht ihre Tore und laden zum späten Bummel durch ihre Ausstellungen ein. Das Bürgerkomitee bietet Sonderveranstaltungen an drei verschiedenen Schauplätzen, von einer langen Filmnacht über Führungen durch die ehemalige zentrale Hinrichtungsstätte der DDR bis zu einer Requisitenausstellung des Filmausstatters von das „Leben der Anderen“. Das ausführliche Programm finden Sie im Abschnitt „Wir laden ein“.

 

Sehr umfassend berichten wir auch über unser umfangreiches Programm während „Leipzig liest“. Alle Veranstaltungsresümees finden Sie unter „Rückblicke“.

 

Wir freuen uns auf Ihren Besuch und wünschen Ihnen zunächst viel Freude beim Lesen des Newsletters.

Ihr Bürgerkomitee Leipzig

 

 

 

+++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++

 

INHALT

Wir laden ein

Rückblick

Aus dem Gästebuch

 

 

 

+++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++

 

WIR LADEN EIN

 

+++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++

 

26. APRIL 2008, 18.00 – 24.00 UHR

„NACHTSCHICHT“ – LEIPZIGER MUSEUMSNACHT

 

„STASI: DAS ENDE DER PRIVATSPHÄRE“

Privat war so gut wie nichts in der DDR – vom Freizeitsport im Verein über das Familienleben bis hin zum Urlaub sollte möglichst alles im Dienste der sozialistischen Persönlichkeitsbildung stehen. Dem entsprechend hatte auch die Staatssicherheit ein Auge auf alle Lebensbereiche. Ungeniert drang sie in die Privatsphäre der Menschen ein, hörte Telefonate ab, kontrollierte Post, installierte Wanzen, legte Geruchskonserven an. Und wo die Geheimpolizei nicht selbst aktiv war, übernahmen regimeloyale Funktionäre und Amtsträger das Kontrollieren: Die von Hauswarten geführten „Hausbücher“, in die sich Gäste von Bewohnern eintragen mussten, sind eines von zahllosen Beispielen für das Streben nach lückenloser Überwachung.

 

Das Museum in der „Runden Ecke“ zeigt zur Museumsnacht, dass es mit dem Schutz der Privatsphäre in der DDR nicht weit her war. Gleichzeitig vermittelt es auch, wie sich die Menschen 1989 ihre Rechte auf ein Leben jenseits des staatlichen Zugriffs zurückeroberten. Wer heute noch ganz privat Erinnerungsstücke an die DDR und die Friedliche Revolution zuhause hat, ist herzlich eingeladen, diese zur „Nachtschicht“ mitzubringen. Wir sorgen gern dafür, dass sie ihr Dasein künftig nicht mehr auf dem Dachboden fristen müssen, sondern in der Museumssammlung für die Nachwelt bewahrt und in Ausstellungen gezeigt werden.

 

 

MUSEUM IN DER „RUNDEN ECKE“ – AUSSTELLUNGSRÄUME, 18.00 – 24.00 UHR:

Ständig Führungen durch die Dauerausstellung „Stasi – Macht und Banalität“ in der ehemaligen Bezirksverwaltung für Staatssicherheit mit den Schwerpunkten:

 

„DER BLICK DURCHS SCHLÜSSELLOCH“

Konspirative Wohnungsdurchsuchung

 

„DER LAUSCHER AN DER WAND“

Wanzen und Telefonüberwachung

 

„DER GESTOHLENE GERUCH“

Der Geruchsprobenspeicher der Stasi

 

„ZERSTÖRTE SEELEN“

Die Zersetzungsmethoden der Stasi

 

„DER FALSCHE FREUND“

Berichte Inoffizieller Mitarbeiter

 

„MIETER KONTROLLIEREN MIETER“

Das Hausbuch in der DDR

 

„VOM WOHNZIMMER AUF DEN RING“

Fotos und Transparente der Friedlichen Revolution 1989 in Leipzig aus Privatbesitz

 

 

 

SAALBAU, 1.ETAGE, 18.00 – 24.00 UHR

Sonderausstellung mit Film

„DER KOPFHÖRER VON STASI-HAUPTMANN WIESLER (ULRICH MÜHE) UND ANDERE ORIGINALE“

Privatsammlung von Requisiten aus dem Film „Das Leben der Anderen“

Klaus Spielhagen, der Requisiteur des Filmes „Das Leben der Anderen“, zeigt und erläutert zur Museumsnacht eine Vielzahl der im Film verwendeten Requisiten aus der Privatsammlung des ebenfalls anwesenden Dr. Wolfgang Dutka. Mit dabei ist der Kopfhörer von Stasi-Hauptmann Wiesler (Ulrich Mühe) und andere Originale, die einmalig an diesem Abend zu sehen sind.

 

dazu ständig Filmvorführung mit Ausschnitten aus

„DAS LEBEN DER ANDEREN“

Der „Oskar“- Film von Florian Henckel von Donnersmarck 2005

 

 

 

SAALBAU, EHEMALIGER STASI-KINOSAAL, 18.00 – 24.00 UHR:

Lange Filmnacht

 

18.00 UHR: „RABENELTERN“

Ein Film des WDR 2006 (30 Min.)

Die begleitende Dokumentation zum Fernsehfilm „Die Mauer – Berlin ’61“

Eltern kämpfen um ihr in der DDR zwangsadoptiertes Kind

 

18.40 UHR: „GERAUBTE KINDER – ZWANGSADOPTIONEN IN DER DDR“

Ein Film des WDR 2002 (45 Min.)

Erschütternde Fälle von staatlich organisiertem Kindesraub .

 

19.30 UHR: „REVISOR“

Ein Stasi-Schulungsfilm (30 Min.)

Die konspirative Durchsuchung der Wohnung eines Leipziger Schriftstellers durch die Stasi

 

20.00 UHR: „EVA“

Ein Stasi-Schulungsfilm (Ausschnitt 10 Min.)

Heimlich von der Stasi durchgeführtes und gefilmtes Verhör im Wohnzimmer des Opfers

 

20.15 UHR: „DIE HONECKERS PRIVAT“

MDR 2007 (45 Min.), aus der Serie „Das Politbüro Privat“

Politischer Aufstieg - Private Entfremdung, Einblicke in den privilegierten als auch isolierten Alltag des Ehepaares an der Macht

Ein Film von Thomas Grimm und Ed Stuhler

 

21.00 UHR: „SIE LEBTEN AUCH DAVON, DASS SIE VERBRECHEN ERFANDEN“

Wie die Stasi das Leben Unschuldiger zerstörte

Der Autor der Filme HELMUTH FRAUENDORFER, MDR/ ARD-Magazin FAKT, stellt DDR-Biografien in Filmen und Geschichten vor.

 

22.00 UHR: „DIE ANDERE FRAU“ – ZWEI FRAUEN VERTRAUEN EINEM STASI-ROMEO

WDR 2003 (90 Min.)

Ein Film von Margarethe von Trotta

 

23.30 UHR: „HUREN UNTER HONECKER“

MDR 1994 (30 Min.)

Überwachung der Gäste in DDR-Hotels

 

 

 

EHEMALIGE HINRICHTUNGSSTÄTTE IN DER ALFRED-KÄSTNER-STRAßE (EINGANG ARNDTSTRAßE) GEÖFFNET, 18.00 – 24.00 UHR

Während der Museumsnacht wird das Bürgerkomitee Leipzig e.V. ständig Führungen durch die authentischen Räume der ehemaligen Hinrichtungsstätte durchführen, die sonst nicht zu besichtigen ist. Eine Werkausstellung vor Ort vermittelt in komprimierter Form die wichtigsten Fakten zu gesetzlichen Grundlagen, zur Verhängung und zur Vollstreckung der Todesstrafe in Leipzig. Ab 1960 wurden alle in der DDR verhängten Todesurteile hier vollstreckt, aktuellen Erkenntnissen zufolge mindestens 64 Fälle.

 

In der Leipziger Südvorstadt befand sich ab 1960 die zentrale Hinrichtungsstätte der DDR. In einem streng abgetrennten Teil der Strafvollzugseinrichtung Alfred-Kästner-Straße wurden alle im Land ausgesprochenen Todesurteile unter absoluter Geheimhaltung vollstreckt. Daran erinnert heute eine Gedenktafel an dem Gebäude. Abgeschafft wurde die Todesstrafe erst 1987.

 

Während der Museumsnacht bietet das Bürgerkomitee Leipzig e.V. ständig Führungen durch die authentischen Räume der ehemaligen Hinrichtungsstätte an. Dies ist eine der seltenen Gelegenheiten, den Ort zu besichtigen. Eine Werkausstellung vermittelt in komprimierter Form die wichtigsten Fakten zu gesetzlichen Grundlagen, zur Verhängung und zur Vollstreckung der Todesstrafe in Leipzig.

 

 

 

+++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++

 

RÜCKBLICK

 

+++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++

 

Der März stand im Museum in der „Runden Ecke“ ganz im Zeichen der Bücher. Fünf Tage lang stellte das Bürgerkomitee während des Literaturfestes „Leipzig liest“ Neuerscheinungen aus Belletristik und Sachbuch vor. Wenn Sie nicht dabei sein konnten, finden Sie hier Rückblicke auf die Veranstaltungen:

 

12. MÄRZ 2008

REGINA ALBRECHT: GRENZENLOSE LIEBE. RENDEVOUZ IM SCHATTEN DER MAUER

Weder die Mauer noch das SED-System konnten eine Liebe zwischen Ost und West, die noch 40 Jahre später so frisch und jugendlich ist wie am Anfang, verhindern. Das beweisen das Ehepaar Albrecht und dessen Geschichte. Über ihre gemeinsamen Erlebnisse berichtet Regina Albrecht in ihrem Buch „Nur 180 Meter. Liebe im Schatten der Mauer“, aus dem sie im Rahmen von „Leipzig liest“ vortrug. Der MDR verfilmte diese unglaubliche, aber doch wahre Liebesgeschichte als Zeitzeugendokumentation unter der Regie von Ulrike Brincker. Nach der Lesung von Regina Albrecht hatte der Film im ehemaligen Stasi-Kinosaal Premiere.

 

Die Autorin begann ihre Lesung mit einem Kapitel zu ihrer Verhaftung durch das MfS. Die gerade 18-Jährige war in Magdeburg ohne jegliche Vorahnung festgenommen und in ein Gefängnis gebracht worden. „Hier kommst du nie mehr raus“, dachte Regina bei ihrer Ankunft. Man schickte sie zu ihrem ersten Verhör, „dieser Moment war ihr so unheimlich“. Eine Gefängnismitarbeiterin untersuchte das junge und total ahnungslose Mädchen. „Sie kam mir vor wie eine Elefantenkuh“. Bis zu ihrem Verhör wusste Regina Albrecht nicht, was sie verbrochen hatte. Da erfuhr sie während des Gespräches mit dem MfS-Mitarbeiter, dass von ihr, einer völlig unpolitischen Jugendlichen, eine Akte angelegt worden war. Darin erkannte sie plötzlich die Briefe ihres Freundes Thomas, der im Westen Berlins lebte. Sie war erschüttert: Diese ihr völlig fremden Personen hatten die intimen Briefe gelesen, die sie mit ihrem Jugendfreund austauschte.

 

Sie hatte Thomas in Ost-Berlin bei einer Feier ihrer Eltern kennen gelernt. Nach und nach entwickelte sich daraus eine enge Bindung und schließlich auch eine Liebe. Diese stand aber „im Schatten der Mauer“, und dem jungen Paar saß ständig die Uhr im Nacken. Denn Thomas musste mit seinem Tagesvisum bis 24 Uhr die DDR verlassen haben. Selbst diese knappe gemeinsame Zeit hatte ein Ende, als Regina verhaftet wurde und beide ein Reiseverbot bekamen. Man untersagte ihnen jeglichen Kontakt zueinander. Regina wurde nach ihrem Verhör und der Untersuchung entlassen und konnte weiterhin in Magdeburg studieren.

 

Als Thomas nach zwei Jahren, in denen beide ihr Studentenleben und fern von einander ihre Jugend genossen hatten, wieder Kontakt zu Regina aufnahm, verabredeten sie sich in Ungarn am Plattensee. Regina bekam durch gute Beziehungen zu einem einflussreichen FDJler ein Ausreisevisum. Das junge Paar genoss die gemeinsame Zeit ohne Zeitbeschränkung und Angst vor dem MfS, und aus der vorherigen Verliebtheit entwickelte sich eine intensive Liebe. Beiden war nun klar, „es geht nicht mehr ohne den anderen“, und Thomas organisierte Reginas Flucht.

 

Nachdem der erste Versuch fehlgeschlagen war, gelangte die damals 22-Jährige im Auto eines Fluchthelfers von Rumänien über drei Grenzen in die BRD, und Thomas konnte sie schließlich in München begrüßen. Die beiden heirateten ein Jahr darauf. Die Lesung und der Film, der Original-Orte, Schauspielerszenen und Aufnahmen mit den Protagonisten selbst verknüpft, führten dem Publikum die Probleme des jungen Paares und die Absurdität des Regimes vor Augen. „Ich wollte ja eigentlich nur studieren und nicht protestieren – doch dann kam die Liebe“, sagte Thomas Albrecht in einem Interview im Film. Das Engagement der beiden war nicht politischer Natur, sie wollten einfach nur zusammen sein. Sie wurden vielmehr wegen ihrer Liebe politisiert, die man ihnen verwehren wollte.

 

Die Besucher waren sichtlich berührt von der Geschichte des Ehepaares Albrecht und nahmen großen Anteil. Auf die Frage, warum Regina Albrecht erst mehr als 30 Jahre nach ihrer Flucht das Buch geschrieben habe, antwortete sie, dass sich das Ehepaar immer bedeckt halten wollte. Erst auf Drängen ihrer Kinder entschloss sie sich dazu, ihre Geschichte aufzuschreiben. Die Diskussionsrunde um den Moderator Helmuth Frauendorfer, Journalist unter anderem für das ARD-Magazin Fakt, war sich einig, dass es wichtig sei, Geschichte „lesbar“ zu machen und zu zeigen, dass auch eine junger Mensch, der „nichts verbrochen“ hatte, ins Visier des MfS geraten konnte.

 

Die Autorin betonte immer wieder, dass es ihr nicht um Daten und Namen ginge, sondern nur um Tatsachen. Deshalb bekamen die Offiziere des MfS in ihrem Buch alle die Namen von Fischen und die Freiheitsliebenden die Namen von Vögeln.

 

 

13. MÄRZ 2008

BERND FLORATH / ARNO POLZIN: ROBERT HAVEMANN – BIOGRAPHIE UND BIBLIOGRAPHIE / AKTENLANDSCHAFT HAVEMANN

„Er ist ein Beispiel für Zivilcourage in schwerer Zeit.“ Das sagt Rainer Eppelmann, langjähriger Bundestagsabgeordneter und heute Vorsitzender der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, über seinen Freund Robert Havemann. Gleich drei Bücher über den systemkritischen Intellektuellen sind kürzlich erschienen, und Eppelmann stellte sie am 13.03.2008 gemeinsam mit Bernd Florath und Arno Polzin, beide wissenschaftliche Mitarbeiter bei der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, sowie Peter Heyl vom Basisdruck Verlag im Museum in der „Runden Ecke“ vor.

 

Die Veröffentlichung von gleich drei Büchern – einer Biographie, einer Bibliographie und einer Broschüre zu vorhandenen Aktenquellen – in der Schriftenreihe der Robert-Havemann-Gesellschaft ist laut Rainer Eppelmann dem Gewürdigten mehr als angemessen: „Es wäre fatal, wenn er in Vergessenheit geriete.“ Er selbst hatte Havemann erst 1980 wenige Monate vor dessen Tod kennen gelernt. Die kurze gemeinsame Zeit war produktiv – beide arbeiteten beispielsweise gemeinsam am legendären „Berliner Appell“. Dabei war Havemann „der mit der Generalsicht“ und Eppelmann der „fürs konkrete Anfassen“.

 

In den 40er Jahren, so Eppelmann weiter, hatte Havemann bewusst Widerstand gegen die NS-Diktatur geleistet. Fast hätte er dafür mit dem Leben bezahlt. Nach 1945 erhoffte er sich in der sowjetischen Besatzungszone endlich einen humanen Neuanfang und war zunächst begeistert von der Idee des Sozialismus. Später begriff er: „Das wird wieder nichts.“ In seinen letzten Lebensmonaten sei Havemann sehr ungeduldig gewesen, weil er das noch miterleben wollte, was er in einem Buch geschrieben hatte: „Das Politbüro wird davongejagt werden.“ Niemals habe der Oppositionelle die Deutsche Einheit als großes Ziel aus den Augen verloren, ergänzte Bernd Florath.

 

Als Regimekritiker befand sich Havemann im Visier der Staatssicherheit, und zwar so umfassend, dass die Aktenbestände einen außerordentlich großen Umfang aufweisen. Selbst für Mitarbeiter der BStU, so Arno Polzin, war angesichts dieser Materialfülle kein schneller Zugang möglich. Daher sei die Idee zur Broschüre „Aktenlandschaft Havemann“ entstanden, eine kommentierte Beschreibung der Quellenbestände in den Archiven der BStU und des Havemann-Archivs.

 

Dass Florian Havemann gleichzeitig ein autobiografisch gefärbtes Buch über seinen Vater und seine Familie herausbrachte, geschah unabhängig von den Publikationsprojekten des Archivs. Wenngleich der Autor viele Geschichten fiktionalisiert habe, so Bernd Florath, erschrecke ihn doch, dass Florian Havemann seinen Vater offenbar „vom Sockel holen“ und „regelrecht klein machen“ wolle. Er könne sich vorstellen, dass dies bei der Leserschaft gut ankommen werde. Denn wenn ein Mensch, der gegen beide deutsche Diktaturen protestiert habe, bewusst verunglimpft werde, beruhige das alle jene, die selbst nie über den Alltag der Banalitäten hinauskamen.

 

 

13. MÄRZ 2008

DIRK MOLDT: ZWISCHEN HASS UND HOFFNUNG. BLUES-MESSEN 1979 – 1986

Am 1. Juni 1979 tat sich in der Berliner Samariterkirche etwas für DDR-Verhältnisse Ungeheuerliches. 250 Menschen mit langen Haaren und Kutte füllten das Gotteshaus, rauchten Kette und tranken Rotwein aus der Flasche. Eine Band spielte Bluesmusik.

 

Zustande gekommen war diese skurrile Veranstaltung durch einen Zufall, berichtete Rainer Eppelmann, damals Pfarrer der Samariterkirche und heute Vorsitzender der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Der bekam eines Nachmittags überraschend Besuch von „Holli“, seines Zeichens Live-Musiker. Er wolle Eppelmann mit einem Konzert „die Kirche vollmachen“. Das musste der Pfarrer ablehnen, schlug aber stattdessen einen Gottesdienst mit Musik vor. Um die inhaltliche Vorbereitung kümmerte er sich selbst. „Irgendwas mit Nächstenliebe“, dachte er sich damals, „das ist immer gut“. Zum anberaumten Termin war die Kirche dann tatsächlich voll – voller noch als bei Weihnachtsgottesdiensten, wenngleich mit einem Publikum, dass vorher noch nie einen Gottesdienst betreten hatte.

 

48 Bluesmessen gab es bis 1986 insgesamt, zunächst nur in der Samariter-, später auch in der Erlöserkirche. Ihre Geschichte hat der Historiker Dieter Moldt recherchiert und in dem Buch „Zwischen Hass und Hoffnung - Blues-Messen 1970 – 1986“ beschrieben. Die Publikation stellte er gemeinsam mit Rainer Eppelmann vor.

 

Insgesamt kamen zu den Bluesmessen 50.000 Besucher, was schnell den Rahmen des organisatorisch und räumlich Möglichen sprengte. Irgendwann, so Eppelmann, reichten selbst 3.000 Plätze nicht mehr aus, und die zu spät Gekommenen standen Schlage vor dem Portal. Wie Moldt recherchiert hat, unterschieden sich die Motivationen der Besucher stark und reichten von „Die Musik war ja gut, aber das Gelaber hätte man sich sparen können“ bis „Da werden offen Probleme angesprochen, die mich unmittelbar etwas angehen.“

 

Während die Kirchgemeinden die Bluesmessen unterstützten, waren sie der SED ein Dorn im Auge. Dort würden sich Assoziale sammeln, lautete der Vorwurf, und außerdem seien die Veranstaltungen doch keine richtigen Gottesdienste – den Vorstellungen der Staatsmacht zufolge bestanden solche ausschließlich aus Singen und Beten. Dementsprechend standen die Kirchenleitungen unter Druck, und zu den Besuchern der Bluesmessen gehörten immer auch Beobachter der Staatssicherheit. Abhalten ließen sich die Organisatoren davon nicht. Zu sehen, wie sich andere über die Resonanz auf die Messen ärgern, „det hat ja ooch Spaß jemacht“, resümiert Rainer Eppelmann heute.

 

Probleme machte den Veranstaltern viel eher der steigende organisatorische und logistische Aufwand. Allein mit Kirchenmitarbeitern waren die Messen bald nicht mehr zu stemmen. So kamen auch bisher „kirchenfremde“ Jugendliche zum helfen und waren nach Eppelmanns Erinnerung regelrecht dankbar, einen Raum in der Kirche zu finden. Wegen ihres Aussehens seien sie teilweise in der Schule, der Freien Deutschen Jugend und sogar im Elternhaus nicht angenommen worden, hätten sich ausgeschlossen und ohne Perspektive gefühlt. Bei den Vorbereitungen der Gottesdienste waren sie dagegen akzeptiert. Manche gingen so in ihrer Aufgabe auf, dass sie in der Nacht vor der nächsten Messe sogar auf Luftmatratzen neben der bereits aufgebauten Musikanlage schliefen, damit sie nicht geklaut werde.

 

Dirk Moldt war selbst oft Besucher der Bluesmessen. Als Wissenschaftler befasst er sich heute hauptsächlich mit dem Mittelalter; dennoch ergriff er die Gelegenheit, sich auch mal mit einem ihm wohl bekannten Kapitel der Zeitgeschichte zu befassen.

 

 

13. MÄRZ 2008

JACOB HEIN: ANTRAG AUF STÄNDIGE AUSREISE UND ANDERE MYTHEN DER DDR

Wenn man mit Humor das Absurde im Alltag beschreiben will, stellt man schnell fest, dass die Realität schon reichlich Ausgangsstoff für solcherart Geschichte bereit hält. Jacob Hein, der im Museum in der „Runden Ecke“ aus seinem Buch „Antrag auf ständige Ausreise“ vorlas, hatte bei der Arbeit an seinem Erzählband festgestellt, dass auch das Leben in der DDR aus Mythen und absurden Geschichten bestehen konnte. Die zahlreichen Besucher wurden bereits vor der Lesung vom Lektor darauf hingewiesen, dass der Autor nur nachts schreibe. Daher solle jeder für sich entscheiden, ob seine Geschichten, die satirisch überspitzt erzählt sind, der Wahrheit entsprechen, oder ob nächtliche Fantasien dem Autor einen Streich spielten.

 

Jacob Hein sorgte mit seinen Mythen über Drogentests im FDJ-Lager, das Ende der „Mattscheiben“ oder über medizinische Thesen eines Schweden für heitere Stimmung. Das Publikum nahm großen Anteil an den fantasiereichen Geschichten über die DDR. Zumal es selbst bestimmte Lebensbereiche vorschlagen durfte, zu denen der Autor lesen sollte. Er habe zu jedem Thema etwas Passendes geschrieben. Jacob Hein betonte auch immer wieder, dass er bei der Arbeit an den Texten des Öfteren selbst schmunzeln musste.

 

Eine der Geschichten handelte von einem schwedischen Arzt, der die These aufstellte, dass Krankheiten in bestimmten Gebieten nur auftreten würden, wenn es bereits Medikamente dagegen gibt. Er war aber nie in der Lage, seine Vermutungen zu beweisen. Nach Gründung der DDR griff ein Wissenschaftler diese These wieder auf, da das Land gut geeignet war, Beweise zu finden. Denn durch die Abschottung vom Westen gab es wenig Zuwanderung von außen und Wanderung innerhalb des Landes. Es wurde schließlich eine Statistik über die Krankheiten der Bürger erstellt. Aus dieser ließ sich ablesen, dass in der DDR nur der Kathar als Krankheit häufig aufgetreten sei, der gut behandelt werden konnte. Der Wissenschaftler zog daraus den Schluss, dass durch den Mangel an anderen Medikamenten auch andere Krankheiten nicht entstehen würden. Nach 1989 sah er sich in seiner These bestätigt, denn erst dann traten in den Gebieten der ehemaligen DDR Erkrankungen wie Herpes oder Neurodermitis auf.

 

Das Publikum konnte aufgrund solcher Geschichten herzhaft lachen, da es die Absurdität gewisser Dinge geradezu auf dem Silbertablett serviert bekam. Jacob Hein ließ nach seiner Lesung völlig offen, ob seine Erzählungen nur der Fantasie entsprungen sind oder doch ein Fünkchen Wahrheit darin steckte. Es blieb jedem Gast selbst überlassen, sich diese Frage selbst zu beantworten.

 

 

13. MÄRZ 2008

NICKI PAWLOW: DIE FRAU IN DER STREICHHOLZSCHACHTEL

Wie erstellt man am schnellsten eine Übersicht aller früheren DDR-Betriebe mit mehr als 500 Beschäftigten? Wer kennt jemanden der jemanden kennt, der früher Dampfkessel hergestellt hat? Und wie verkauft man der Öffentlichkeit in schönen Worten einen Stellenabbau von 60.000 auf 6.000 Mitarbeiter? Es sind solche und ähnliche Fragen, die Franziska Anfang der 90er Jahre umtreiben, denn sie ist bei der Treuhand beschäftigt. Die Protagonistin in Nicki Pawlows Roman „Die Frau in der Streichholzschachtel“ hat auf ihrem Schreibtisch jeden Tag Papierberge vor sich und muss sich von den Arbeitern, die immer wieder vor dem Treuhand-Gebäude demonstrieren, nicht selten als „Wessi“ beschimpfen lassen.

 

Nicki Pawlow, die nie selbst bei der Treuhand beschäftigt war, hat bei ihren Gesprächen mit ehemaligen Mitarbeitern allerhand abenteuerliche Geschichten gehört. Aber: „Die Leute, mit denen ich gesprochen habe, das waren keine Schweinehunde. Die haben versucht, einen sauberen Job zu machen“, erzählte die Autorin, als sie ihren Roman im Museum in der „Runden Ecke“ vorstellte.

 

Nicht nur die Nachwendezeit beschreibt Nicki Pawlow in ihrem Buch; sie fängt auch viele Facetten des DDR-Alltags ein: Der erste Farbfernseher der Familie, als die Protagonistin noch Schulkind war, das Nachspielen von Indianerfilmen mit Freunden, die Wehrerziehung und nicht zuletzt die von den Eltern immer wieder eingeschärfte Parole: Bloß niemandem erzählen, dass wir Westfernsehen gucken; niemals sagen, was Du wirklich denkst. Der Vater ist ausgezeichneter „Held der Arbeit“, durfte aber trotzdem nicht studieren und keine einzige Auslandsreise machen. Grund ist die Flucht seines Schwagers, die immerhin bereits 25 Jahre zurück liegt, als er es erneut mit einem Reiseantrag versucht. Während er tatsächlich für wenige Tage in die Bundesrepublik fahren darf, werden Ehefrau und Tochter zuhause überwacht – ein „Telefontechniker“ repariert unaufgefordert das Gerät der Familie, am nächsten Tag findet sich eine Wanze im Hörer.

 

Nach seiner Rückkehr schwärmt der Vater von der Freundlichkeit und Sauberkeit im Westen. „Alles ist so lebendig, so bunt. Man kann frei denken dort.“ Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die gesamte Familie in die Bundesrepublik ausreist. Es bewege sie sehr, sagte Nicki Pawlow, gerade diese Geschichte im Museum in der „Runden Ecke“ vorzustellen. „Wer hätte das gedacht, dass hier eines Tages Schriftsteller sitzen und aus ihren Büchern lesen“, fragte sie sich in den früheren Arbeitsräumen der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit.

 

Neben Kindheit und Jugend in der DDR sowie der Arbeit der Treuhand ist die Liebe der dritte große Erzählstrang in Nicki Pawlows Roman. Ihre Protagonistin Franziska lernt Wolfgang Kiefer, geboren Ende der 30er Jahre im Prenzlauer Berg in Berlin und später DDR-Korrespondent eines bundesdeutschen Fernsehsenders, kennen und lieben. Oft hatte sie ihn auf dem Bildschirm gesehen, doch bei ihrer persönlichen Begegnung vertraute er ihr seine Lebensgeschichte an. Teil davon ist eine Streichholzschachtel, die ihm einst eine Frau in die Manteltasche schmuggelte; auf den Innenboden hatte sie ihre Telefonnummer geschrieben. Franziska will das Geheimnis um die Nummer mit der Leipziger Vorwahl lüften…

 

 

13. MÄRZ 2008

TOM ROM SMITH: KIND 44

„Wie kann man ein guter Mensch sein unter unmöglichen Bedingungen?“, diese Frage drängt sich auf beim Rückblick auf das letzte Jahrhundert. Sie betrifft nicht nur das nationalsozialistische Deutschland und die kommunistische Diktatur in der DDR, sondern auch die Zeit des Stalinismus in der Sowjetunion. Der Faktor „Angst“ war ein zentraler Teil des Systems, ohne das die Diktaturen nicht hätten existieren können.

 

Um die Zeit des Stalinismus und die offiziell verheimlichten Verbrechen geht es im Buch „Kind 44“, das der Autor Tom Rob Smith und der Schauspieler Bernd Michael Lade im Museum in der „Runden Ecke“ vorstellten. Während der Autor aus dem englischen Originaltext las, trug der Leipziger Tatort-Kommissar Teile der deutschen Übersetzung vor.

 

Hauptperson des Thrillers ist der Geheimdienstoffizier Leo Demidow, der die Augen vor den offenkundigen Verbrechen, die in Moskau 1953 an unschuldigen Kindern begangen wurden, nicht verschließen kann. Er beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln und wird deshalb verhaftet. Beim Verhör bläut man ihm immer wieder ein, dass „das Wohl des Ganzen“ das wichtigste Gut des Staates sei und man daher einen Krieg gegen den „Feind im Inneren“ führen müsse. Die Ansichten Leos, der der Sowjetunion immer treu diente und sogar seiner Frau nachspionieren ließ, geraten nun ins Schwanken. „Das Wohl des Ganzen“ als Rechtfertigung für das System genügt ihm nicht mehr. Nun soll Leo auf Veranlassung des Staates seine Frau selbst beschatten, was er kaum mit seinem Gewissen vereinbaren kann. Eine lange Verfolgung durch die Straßen und das U-Bahn-Netz Moskaus beginnt. Ihm wird klar, dass ihrer beiden Leben von dem Ausgang der Ermittlungen abhängen, denn „das kleinste Körnchen könnte zum Beweis werden“.

 

Im Saal traute sich während der Lesung keiner der Besucher auch nur zu husten. Das Publikum fühlte sich durch den atemberaubenden Thriller, der von einer der finstersten Epochen der russischen Geschichte erzählt, in die grausame Zeit hineinversetzt. Auch der Schauspieler Bernd Michael Lade zeigte sich beeindruckt von dem Roman. „Ich habe geweint, als ich fertig war“, war einer seiner Kommentare zu dem Buch. Er habe sich wieder an diese „Scheiß Ostmachtlosigkeit“ erinnert gefühlt.

 

Auf die Frage, woher der Autor die genauen Beschreibungen Moskaus und der Sowjetunion dieser Zeit nehme, antwortete Tom Rob Smith, dass er zwar schon einmal in Russland gewesen sei, sich aber 90% seines Wissens aus Büchern angeeignet habe. Ein Zuhörer aus dem Publikum merkte an, dass es erschreckend sei, in der Geschichte Parallelen zur DDR zu erkennen. „It’s important, that it lives with us still“ (Es ist wichtig, dass es immer noch in uns lebt), war die Antwort des jungen britischen Autors

 

 

14. MÄRZ 2008

UDO SCHEER: JÜRGEN FUCHS. EIN LITERARISCHER WEG IN DIE OPPOSITION

„Den musst du kennen, den Jürgen Fuchs, den musst du gelesen haben“ – das hätte man Helmuth Frauendorfer, Journalist unter anderem für das ARD-Magazin Fakt, früher oft gesagt. Nun moderierte er die Buchvorstellung der neuen Biografie zu Jürgen Fuchs von Udo Scheer.

 

Jürgen Fuchs war einer der bekanntesten Gefangenen in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen in Berlin. Er gehörte zu den großen Idealisten seiner Zeit in der DDR. Wegen „feindlicher Angriffe gegen Grundlagen der sozialistischen Gesetze in der DDR“ wurde er aus der SED ausgeschlossen und zwangsexmatrikuliert. Zusätzlich erhielt der Lyriker und Prosa-Autor eine Publikationssperre. Nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann protestierte Jürgen Fuchs öffentlich; er verglich diese Methode, einen Kritiker loszuwerden, mit den Vertreibungen, die von den Nazis betrieben worden waren. Daraufhin wurde er verhaftet. „Ich wollte auch sterben in dieser Zeit“, war Jürgen Fuchs in einem Film zu vernehmen, der während der Veranstaltung gezeigt wurde.

 

Nach seiner Ausbürgerung 1977 beschäftigte Fuchs sich weiterhin mit den Verbrechen der sozialistischen Diktatur. Er verfasste unter anderem das Buch „Magdalena“, in dem er die Machenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit beschreibt. „Wenn man die Aufzählung so liest, erschrickt man ja selbst“, war der Kommentar des Autors zu seinem Buch. Er hatte während seiner Haftzeit und seinen Verhören jedes kleine Detail betrachtet und bewies sich später als genau beobachtender Chronist, der alles für die Nachwelt überliefern wollte.

 

Udo Scheer, ein Wegbegleiter Jürgen Fuchs’, schildert in seiner Biografie das Schicksal des Bürgerrechtlers und die Machenschaften der Stasi gegen ihn. Sein Kampf gegen die DDR sei ein „kostbares Gut der Demokratie“, die ja schließlich das sozialistische System besiegt habe, auch wenn Jürgen Fuchs noch im Jahr 1998 Morddrohungen erhalten habe. Udo Scheer sieht den Schriftsteller als eine „Ein-Mann-Schaltzentrale“, denn er war bis 1989 eine der wichtigsten Kontaktpersonen für die DDR-Opposition. Es war ihm gelungen, wichtige Verbindungen zwischen Ost und West zu knüpfen und diese auch aufrechtzuerhalten. Udo Scheer beschreibt die drei Lebenskreise von Fuchs: die Literatur, das Wirken in der Westlinken gegen das „heile Bild des Sozialismus“ und die Unterstützung der Opposition der DDR.

 

An der Diskussion in der „Runden Ecke“ nahm auch Siegfried Reiprich, ein weiterer Weggefährte Jürgen Fuchs’, teil. Dieser beschrieb den Bürgerrechtler, der 1999 verstarb, als sehr positiven Menschen, der durch „seinen Elan und seine Zuversicht ansteckend wirkte“. Als beide sich nach 1989 in West-Berlin wieder trafen, war das Verhältnis zunächst von Misstrauen geprägt, denn während seines Verhörs 1976 hatten die Stasi-Offiziere Jürgen Fuchs einzureden versucht, dass sein Freund Siegfried gestanden und alles verraten habe. Da der Ausgebürgerte sich vor „Verrätern“ hüten musste, hielt er stets Distanz zu Reiprich. Erst nach Einsicht in die Stasi-Akten wurde beiden klar, dass die Staatssicherheit versucht hatte, einen Keil zwischen die beiden Freunde zu treiben.

 

Auf die Frage, ob es eine gewisse Konkurrenz zwischen Jürgen Fuchs und Udo Scheer, der ebenfalls als freiberuflicher Schriftsteller und Publizist tätig ist, gegeben habe, sagte er, dass er sich nie als Schriftsteller gesehen habe. „Bücher kommen zu mir. Wenn ein Buch passiert, dann passiert es.“

 

 

14. MÄRZ 2008

TERRY KAJUKO: WILD WILD OST

Wer den klangvollen Namen Terry Kajuko trägt, muss mindestens vom anderen Ende der Welt kommen – dachten sich vermutlich auch einige der Besucher der Lesung am 14.03.2008, bei der Kajuko im Museum in der „Runden Ecke“ seinen Roman „Wild Wild Ost“ vorstellte. Doch das „Leipzig liest“-Publikum hatte einen waschechten Schwaben vor sich, der denn auch verriet, dass er sich für die Publikation ein Pseudonym zugelegt hatte. Seinen bürgerlichen Namen behielt der Autor für sich, erzählte jedoch zumindest, warum er darum ein Geheimnis macht.

 

Seine Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit: Zwei schwäbische Kleinunternehmer bieten 1990 auf gut Glück der Dresdner Stadtverwaltung ihre Dienste in Sachen Architektur und Landschaftsplanung an, projektieren alsbald ein Gewerbegebiet und ziehen in der Folge immer mehr und immer umfangreichere Aufträge an Land, die ihnen mehr als nur eine Nummer zu groß sind. Der Leser sieht dabei zu, wie die Protagonisten hemmungslosem Größenwahn verfallen und geradewegs in eine Katastrophe hineinsteuern. Auf dem Weg dahin haben sie mit dutzenden beratungsresistenten Bürgermeistern, unseriösen Geschäftsleuten und korrupten Bankdirektoren zu tun.

 

Die Figuren in Kajukos Roman haben reale Vorbilder – der Autor hielt es deshalb für klüger, das Buch nicht unter seinem bürgerlichen Namen zu veröffentlichen. Angesprochen fühlten sich dann freilich die Falschen. Er habe Anrufe von wütenden Bankmitarbeitern erhalten, die sich in der Geschichte offenbar wieder erkannten, allerdings gar nicht gemeint waren, erzählte Kajuko.

 

Ein lebendes Vorbild hat auch Martin, der Ich-Erzähler des Romans – nämlich den Autor selbst: Beide sind gelernte Landschaftsarchitekten, beide gingen unmittelbar nach der Friedlichen Revolution nach Dresden und kauften sich eine protzige Villa nahe des Blauen Wunders. Beide liehen sich spaßenshalber eine Kolonne ausrangierter Militärfahrzeuge aus und machten mit Geschäftspartnern und Freunden einen Ausflug in den Biergarten. Und beide teilen die Vorliebe für schwäbischen Wein sowie gutes, herzhaftes Essen. Die Besucher der Lesung interessierte so vor allem, wie viel der Geschichte Kajuko selbst erlebt hatte. Der erzählte unter anderem, dass ihm viele der im Buch beschriebenen Stereotypen – naiver Ossi, arroganter Wessi – so auch in der Realität begegnet seien.

 

Kajuko, der nach wie vor als Landschaftsgärtner tätig ist, arbeitet inzwischen an seinem zweiten Roman. Der wird allerdings nichts mit Ost-West-Klischees zu tun haben, sondern spielt im fernen Lateinamerika.

 

 

14. MÄRZ 2008

JENS SCHÖNE: DAS SOZIALISTISCHE DORF

Bodenreform und Kollektivierung zerstörten auf dem Gebiet der DDR die traditionellen bäuerlichen Strukturen. Die offiziellen Ziele waren es, das NS-Erbes auf dem Lande zu tilgen, die Ernährung der gesamten Bevölkerung zu sichern und ein enges Bündnis zwischen Arbeiterklasse und „werktätigen Bauern“ (später Genossenschaftsbauern) zu schaffen. Ohne Rücksicht auf die Erfordernisse der Nachkriegszeit, in der eine katastrophale Ernährungslage herrschte, richtete das sozialistische Regime seine Politik allein an ideologischen Maßnahmen aus. Der KPD/SED-Führung war nicht Profit und Erträge wichtig, sondern nur der „planmäßige Aufbau des Kommunismus“. Viele alteingesessene und selbstständige Landwirte waren nicht bereit, ihren Grund und Boden an die LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften) abzugeben, „Es sei denn, der Russe erzwingt es“, war häufig ihre Reaktion. Was schließlich durch die 1960 vollzogene Zwangskollektivierung geschah.

 

Bodenreform und Kollektivierung waren laut Jens Schöne, der im Museum in der „Runden Ecke“ sein neues Buch „Das sozialistische Dorf“ vorstellte, in der Sowjetunion im Zuge der sozialistischen Ideologie von Anfang an geplant. Bereits Marx, Engels und Lenin hätten in ihren Schriften die vollständig kollektivierte Landwirtschaft als essentielles Ziel des agrarpolitischen Handelns festgeschrieben. In den Akten der DDR seien allerdings keine Anweisungen und Pläne vorhanden oder noch nicht gefunden worden. Darauf gab Michael Beleites, Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen und ebenfalls Teilnehmer der Diskussion zu bedenken, dass die Akten der Stasi noch lange nicht durchgearbeitet seien und es noch sehr viel zu erforschen gebe.

 

Nachdem Jens Schöne die Thesen seines neuen Buches vorgestellt hatte, diskutierte er mit Experten über die kommunistische Agrarpolitik und ihre Auswirkungen bis heute. Die Folgen der Kollektivierungspolitik sind in den neuen Bundesländern nach wie vor zu spüren, darüber waren sich alle Beteiligten einig. Zunächst stand zur Debatte, warum gerade in Sachsen mit der Bodenreform begonnen wurde, obwohl dort eine völlig andere Landwirtschaftsstruktur herrschte als zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern. Der Landwirt Manfred Probst erklärte, dass in Sachsen ein Präzedenzfall geschaffen werden sollte, nach dessen Beispiel man die Landwirtschaft der ganzen SBZ reformieren konnte. Aber „hinter allem stand der Befehl aus Moskau“. Schließlich wurden die anderen Gewerkschaften wie zum Beispiel die „Raiffeisen-Gewerkschaft“ aufgelöst und vermehrt LPG gegründet, um mit deren Hilfe auf dem Land Politik zu betreiben. Die SED-Führung suchte in den Kleinbauern und Landlosen Verbündete, indem sie die Großbauern und Großgrundbesitzer enteignete und die gewonnenen Bodenfonds an die landarmen Bauern verteilte. Diese ersten Schritte nannte die SED-Führung „antifaschistisch-demokratische Maßnahmen“. Nun stellte sich in der Diskussionsrunde die Frage, ob diese wirklich einen demokratischen Charakter hatten. „Da ist nix Demokratisches. Das war die knüppelharte Politik der Sowjetunion“, sagte Probst, denn bei der Enteignung seien massive Verstöße gegen die Menschrechte aufgetreten, und es habe keine demokratische Abstimmung gegeben, mit der die SED-Führung ihre Maßnahmen hätte legitimieren können. „Es ging nicht darum, ein neues Bauerntum zu schaffen, sondern die bäuerliche Bourgeoisie abzuschaffen.“ Das sozialistische System wollte ausschließlich seine Macht stärken. Als erfolgreiches Beispiel galt Stalin, der mit der Kollektivierungspolitik seine Macht erhalten hatte.

 

Kann man die LPG Genossenschaft nennen oder ließe sich eventuell ein neuer, zeitgemäßer Begriff dafür finden? lautete eine weitere Frage in der Diskussion. Probst führte an, dass eine Genossenschaft eigentlich eine „Hilfe zur Selbsthilfe“ darstellen sollte, in die man zum eigenen Vorteil und freiwillig eintritt. Diese Eigenschaften seien aber durch die SED nicht gewährleistet worden. Denn die neue Genossenschaftspolitik diente ebenso wie Bodenreform und Kollektivierung dem planmäßigen Aufbau des Kommunismus. Den Landwirten eröffneten sich zwar durch den Beitritt in LPG Karrierechancen, aber die Produktivität der gemeinschaftlichen Großbetriebe war nicht so hoch wie in privaten Betrieben. Und spätestens nach der Zwangskollektivierung 1960 war dem Genossenschaftsgedanken auch die Grundlage der Freiwilligkeit entzogen.

 

Der ehemalige Sächsische Staatsminister für Landwirtschaft und jetzige Landtagsabgeordnete Rolf Jähnichen war in der DDR Mitglied einer LPG. Auf die Frage, warum er dieser beigetreten sei und ob sich für ihn Vorteile ergeben hätten, sagte er, dass es keine Alternativen zur LPG gegeben habe. Aus dem Publikum wurde Herr Jähnichen scharf dafür kritisiert: Wie könne er es rechtfertigen, dass er als ehemaliger Sächsischer Staatsminister für Landwirtschaft nach der Wende maßgeblich daran beteiligt war, dass viele Bauern bei der Rückführung „über den Tisch gezogen wurden“? Die Runde räumte ein, dass es bei der Rückübertragung nach 1990 viele Ungerechtigkeiten durch die Ämter gegeben habe. Viele Maßnahmen wie Eigentumsübertragungen und Rückerstattungsansprüche sind heute umstritten, angefochten und vielleicht teilweise nicht rechtskräftig. Viele Landwirte der neuen Bundesländer fühlen sich noch immer ungerecht behandelt. Die Diskussionsrunde stellte schließlich fest, dass es der LPG nur darum ging, den Staat zu unterstützen und das System zu stärken.

 

Nicht zuletzt sei durch Kollektivierungsmaßnahmen der Bauerstand als Landschafts- und Kulturträger verloren gegangen, weil die Landschaft aufgrund von Umsiedelungen und Landverteilungen „ausgeräumt“ wurde. Der traditionelle Bauernstand starb aus.

 

 

14. MÄRZ 2008

MARC BUHL: DREI SIEBEN FÜNF

Sein Besuch in der Gedenkstätte Berlin Hohenschönausen ließ Marc Buhl nicht wieder los. Der Schriftsteller hatte die frühere Stasi-Haftanstalt besucht und war mit einem ehemaligen Häftling ins Gespräch gekommen. Lange ging ihm die Begegnung durch den Kopf, bis sich schließlich nach und nach die Handlung eines Romans herauskristallisierte. „Drei Sieben Fünf“ heißt das bei Eichborn erschienene Buch, das Marc Buhl im Rahmen von „Leipzig liest“ im Museum in der „Runden Ecke“ vorstellte.

 

Paul Kremer ist der Protagonist seines Romans, der in Hohenschönhausen inhaftiert war und am 7. Dezember 1989 als einer der letzten „politischen“ Häftlinge frei gelassen wird. Es ist exakt derselbe Tag, an dem Stasi-Chef Erich Mielke festgenommen wird und nun sein Haus in Wandlitz mit einer Zelle in Hohenschönhausen tauschen muss. Paul Kremer hat die Friedliche Revolution, den Sturz des SED-Regimes, den Fall der Berliner Mauer nicht miterlebt, und die Welt hat sich so rasant gewandelt, dass er an sein früheres Leben nicht mehr anknüpfen kann. Also fängt er von vorn an, in einem abgelegenen Tal im Schwarzwald wo er mit einer neu gegründeten Familie unauffällig und „fast normal“ lebt. Fast – denn die Vergangenheit lässt ihn trotz der räumlichen und zeitlichen Distanz nicht los.

 

2006 schießt Paul Kremer sich in den Kopf, doch der Selbstmordversuch gelingt, und nach Wochen im Koma kann er sich beim Erwachen zwar noch an sein Leben in der DDR mit der Dichterin Hanna erinnern, jedoch nichts mit dem Namen seiner Ehefrau Christiane anfangen, die eine Karte mit Genesungswünschen neben sein Krankenbett gestellt hat.

 

Marc Buhl erzählt die Geschichte Kremers nicht chronologisch, sondern in Rückblenden – erst am Schluss erfährt der Leser, was den Protagonisten seinerzeit ins Gefängnis geführt hat. Bei seinen Recherchen für das Buch sprach der Autor mit vielen Häftlingen; einer davon las sogar sein Manuskript und korrigierte Passagen, die mit den historischen Ereignissen nicht vereinbar und somit nicht plausibel waren. „Er hat mir ganze Szenen ausgeredet, die ich mit Herzblut geschrieben hatte“, berichtete Buhl. Getrennt hat er sich trotzdem von ihnen, denn wenngleich die Geschichte fiktiv ist, wollte der Autor doch, dass sie sich so hätte abspielen können.

 

Schon einmal hatte sich Marc Buhl literarisch mit einer Diktatur auseinandergesetzt – „Das Billiardzimmer“ spielte in der NS-Zeit. Für einen Schriftsteller in der Bundesrepublik seien die beiden deutschen Diktaturen zwangsläufig ein originäres Thema, erklärte Buhl sein Interesse an der DDR-Geschichte. Biografische Anknüpfungspunkte zum Stoff habe es jedenfalls nicht gegeben; der im Westen groß gewordene Autor war in seiner Jugend nur einmal auf Klassenfahrt in Berlin. Darüber hinaus sei ihm die DDR im Unterricht stets sehr positiv vermittelt worden, „nicht unbedingt als das bessere, aber zumindest als ein gleichwertig gutes System“.

 

Konkrete Pläne für das nächste Buch hat Marc Buhl noch nicht in der Schublade, er werde jedoch – so viel konnte der Autor in der „Runden Ecke“ schon sagen – vorerst kein Kapitel aus der deutschen Zeitgeschichte wieder als Thema wählen.

 

 

15. MÄRZ 2008

UTA FRANKE: SAND IM GETRIEBE. DIE GESCHICHTE DER LEIPZIGER OPPOSITIONSGRUPPE UM HEINRICH SAAR

Leipzig, 1977: Seit mehr als einem Jahr treffen sich junge Leute Anfang 20 regelmäßig, um politische und philosophische Fragen zu diskutieren. Sie sind schockiert von Ereignissen wie der Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz und der Ausbürgerung Wolf Biermanns. Die sozialistische Idee begreifen sie nach wie vor als gute Alternative zum Kapitalismus, allerdings gilt es aus ihrer Sicht dringend, das bestehende System zu verbessern.

 

Uta Frank gehört zu der Gruppe dieser Jugendlichen, denen der Realsozialismus zahlreiche Fragen aufgibt. Warum zum Beispiel soll Beat-Musik schädlich sein? Warum gibt es keine Reisefreiheit? Diese kritische Haltung sollte den Studenten zum Verhängnis werden – wie es dazu kam, hat Uta Frank 30 Jahre später in ihrem Buch „Sand im Getriebe. Die Geschichte der Leipziger Oppositionsgruppe um Heinrich Saar“ aufgeschrieben. Die Publikation, die die Autorin im Museum in der „Runden Ecke“ vorstellte, basiert auf Erinnerungen und Zeitzeugengesprächen, vor allem aber auf akribischen Aktenrecherchen. Erschienen ist sie in der Schriftenreihe der Stiftung Sächsische Gedenkstätten.

 

Ende 1977 stieß Heinrich Saar zu der Studentengruppe, die es bald nicht mehr beim Diskutieren beließ. Stattdessen sorgte sie mit Protestaktionen für öffentliches Aufsehen. Im September 1978 versetzten die Jugendlichen Staatssicherheit und Polizei in rege Betriebsamkeit, hatten sie doch – pünktlich zur Herbstmesse – mit weißer Autolack-Farbe die Inschrift „Freiheit für Bahro“ am Völkerschlachtdenkmal angebracht. „Damit wollten wir auf den inhaftierten Rudolf Bahro, aber auch auf die vielen anderen politischen Gefangenen aufmerksam machen“, erzählte Uta Franke. Heinrich Saar war zu diesem Zeitpunkt wegen seiner Kritik an der SED-Führung bereits verhaftet worden.

 

Heinrich Saar, so der langjährige Leiter des Leipziger Universitätsarchivs Prof. Gerald Wiemers, war eine schillernde Persönlichkeit. Bedingt durch die Flucht vorm NS-Regime war er schon als Jugendlicher weit herumgekommen: Zunächst emigrierte er in die Tschechoslowakei; sein weiterer Weg führte ihn über Frankreich und England wieder nach Prag, bevor er schließlich 1946 zurück in die Sowjetische Besatzungszone kam. An der Universität Leipzig studierte er ab 1948 nur zwei Semester, dann wurde er Hilfs- und wenig später angestellter Assistent. Auch er glaubte an die Idee des Sozialismus, wurde Mitglied der KPD und danach der SED.

 

Als Student oder gar Mitarbeiter der Universität in einer Gruppe organisierten Widerstand zu leisten – das war in den 70er Jahren legal gar nicht mehr möglich, berichtet Gerald Wiemers. Jegliche Versuche in dieser Richtung zogen die sofortige Exmatrikulation nach sich. Uta Franke, Heinrich Saar und die anderen mussten also heimlich arbeiten und begaben sich damit in Gefahr. Franke wurde 1979 verhaftet und in der berüchtigten Frauen-Strafvollzuganstalt Hoheneck inhaftiert. Im August 1981 konnte sie auf dem Weg des Freikaufs in die Bundesrepublik ausreisen. Saar dagegen wurde in der Haft als Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit angeworben.

 

Uta Franke erfuhr von Saars IM-Tätigkeit erst beim Studium der MfS-Akten. „Er hatte mir das selbst nicht gesagt; ich hatte richtige Wut auf ihn“, so die Autorin. Da Saar 1995 verstarb, konnte sie ihn nie mit der Frage nach dem Warum konfrontieren. Die Akten zeigten ihr allerdings, dass ihr einstiger Weggefährte ab 1965, nachdem seine Bewährungszeit abgelaufen war, nur noch nachlässig für das MfS berichtete. 1969 wurde seine Akte ganz geschlossen.

 

 

15. MÄRZ 2008

TÖDLICHES SYSTEM. WENN DAS REGIME LEBENSGEFÄHRLICH WIRD

„Es hat Tote gegeben“, dies ist eine Tatsache, die man gerne verschweigt, wenn man über die DDR berichtet. Um der „freundlichen Verklärung der DDR“, wie Redakteur Johannes Beleites es bezeichnet, entgegen zu wirken, entstand die Zeitschrift „Horch & Guck“. Deren neueste Ausgabe mit dem Titel „Wenn das System lebensgefährlich wird“ wurde im Museum in der „Runden Ecke“ vorgestellt.

 

Mit neuem Layout und nach Umstrukturierungen in der Redaktion beschäftigt sich die wissenschaftliche Zeitschrift in der aktuellen Ausgaben mit Geschichten von Menschen, die im kommunistischen System ihr Leben lassen mussten. So befassen sich Beiträge mit der Frage nach der Begrifflichkeit der Liquidierung, einem häufig in den Stasi-Akten vorkommenden terminus technicus, der zum einen das Abschließen von Akten bezeichnet – und zum anderen das Ermorden von Menschen. Typisch für eine deutsche Behörde wie das MfS habe sie auch diese Vorgänge akribisch schriftlich festgehalten, so Dr. Hans Jürgen Grasemann, heute Oberstaatsanwalt, früher stellvertretender Leiter und Sprecher der zentralen Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltung in Salzgitter. Deren Aufgabe war es sowohl gewesen, politische Urteile, so genannte Terrorurteile bzw. Misshandlungen in Untersuchungsanstalten der DDR, zu registrieren als auch, Beweise für Todesfälle an der Mauer und der innerdeutschen Grenze zu sichern.

 

Ein solcher Fall hatte sich am 9. April 1969 ereignet: Ein 28 jähriger Dresdner wurde durch Schusswaffengebrauch „vernichtet“ – das Synonym für Tötung. Um den Westen im Unklaren über die „Vernichtung des Grenzverletzers“, wie es wortwörtlich in einer Akte stand, zu lassen, hatten die Grenzer die Lichter gelöscht, als sie die leblose Person abtransportierten.

 

Unter den registrierten Toten waren nicht nur Opfer des Schießbefehls sondern auch der ca. 1,3 Millionen Bodenmienen an der grünen Grenze. Dies würde oft vernachlässigt, so der Oberstaatsanwalt.

 

Nicht zuletzt gehörten zu den verzeichneten Todesfällen auch die gezielten Hinrichtungen. Der wohl bekannteste Fall ist der des Staatssicherheitshauptmannes Werner Theske, der durch einen Schuss ins Hinterhaupt liquidiert wurde. „Es hat über 200 Todesurteile gegeben, die der DDR anzulasten sind, von denen etwa 166 vollstreckt wurden, davon wiederum aus politischen Gründen gut ein Drittel“, berichtete Grasemann. Tobias Hollitzer, Leiter der Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“, fügte hinzu, dass es die Todesstrafe offiziell in der DDR bis Dezember 1987 gab. Vollstreckt wurden die Urteile bis 1956 in der zentralen Hinrichtungsstätte in Dresden am Münchner Platz. Durch bisher nicht geklärte Umstände wurde die Hinrichtungsstätte 1960 Jahre nach Leipzig in die Haftanstalt in der Alfred-Kästner-Straße verlegt. In den Räumen der ehemaligen Hausmeisterwohnung wurden die Todesurteile zunächst noch mittels Guillotine, später durch „unverhofften Nahschuss in das Hinterhaupt“ vollstreckt. Oberstes Gebot sei hierbei die Geheimhaltung gewesen, so Hollitzer. Auf den Totenscheinen waren selbst Todesursache und –ort stets gefälscht. Die Hingerichteten wurden anonym eingeäschert.

 

Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, jedoch bevorzugte den kurzen Prozess. „Das ganze Geschwafel, von wegen nicht hinrichten, nicht Todesurteil alles Käse Genossen, hinrichten, wenn es sein muss ohne Todesurteil.“, sagte er noch 1981. Grasemann resümierte, dass man daran erkennen könne, „dass die Stasi über Leben und Tod bestimmen konnte und so zusagen gegen jedes Gesetz, auch gegen das Gesetz der DDR verstoßen hat“.

 

 

15. MÄRZ 2008

JAN BÖTTCHER: NACHGLÜHEN

„Sie selbst sind es, die das Ende zum Anfang machen.“ So führt der Autor Jan Böttcher in das Geschehen seines neuen Romans „Nachglühen“ ein, aus dem er im Museum in der „Runden Ecke“ in intimer Atmosphäre las.

 

Der poetische Titel „Nachglühen“ umschreibt die Nachwirkungen der DDR-Geschichte und deren Einfluss auf die zwei Hauptakteure des Buches Jo Brüggemann und Jens Lewin. Beide sind nach Stolpau – ihren Heimatort im ehemaligen Sperrgebiet direkt an der Elbe – zurückgekehrt sind. Der erste um seinen Großvater zu pflegen; der zweite um die Dorfkneipe seiner Eltern zu übernehmen. Doch „zwischen den beiden liegt eine Geschichte des Verrats“, die bei der Wiederkehr nach so langer Zeit noch immer schwelt. Die genauen Zusammenhänge kann der aufmerksame Leser nur erahnen, denn für gute Literatur gehöre es sich, nicht alles zu hundert Prozent aufzulösen, so der Autor. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass Jo teilweise Schuld an Jens` zweijähriger Haftstrafe trägt, durch die er den Mauerfall und einen wichtigen Teil seiner Jugend verpasst hatte. Diese Schuldgefühle begleiten Jo durch das Buch: „wie Sodbrennen – sie kommen immer wieder hoch“.

 

Jan Böttchers Roman ist mit vielen dieser vortrefflichen Vergleiche sowie detailverliebten Situationsbeschreibungen gespickt. Dennoch ist es eine ernste, bedrückende Stimmung, die der Autor zeichnet – so empfand es zumindest eine Zuhörerin aus dem Publikum. Nichts desto trotz wartet das Buch auch mit unterhaltsamen Passagen auf, wie der Beschreibung eines dumme-Jungen-Streichs von Jo und Jens, für den einer der beiden schwere Konsequenzen tragen muss. Auch Jens Lewins Werdegang zum Erwachsenen sei in Rückblicken extra beschwingt gestaltet, um den schmalen Grat zwischen Komik zur Tragik zu verdeutlichen.

 

Sein „Handwerk“ hat Jan Böttcher in seiner Studiumszeit an der Humboldt Universität zu Berlin, in der er sich der neueren deutschen Literatur sowie der Skandinavistik widmete, gelernt. Diese Zeit habe ihn stark geprägt, nicht nur was seine literarischen Vorbilder anging. Schon damals setzte er sich mit der DDR-Geschichte auseinander, die Grundstoff für die Handlung seines neuen Romans wurde. Auf die Frage nach seinen Vorbildern erzählte Jan Böttcher, dass jedes seiner Bücher einen eigenen Stil, eine eigene Sprache habe. So sei sein vorheriges Werk „Geld oder Leben“ schneller, jugendlicher, rotziger geschrieben als andere und orientiere sich am Schreibstil J.D. Salingers, dessen Werke ihn stark beeinflussten. Ob man zwangsläufig zum Schreiben komme, weil man gern lese, vermochte der Autor nicht zu beantworten. Bei ihm war es eine fließende Entwicklung von Song- über Prosatexte, die zunächst in Schubladen verschwanden, da er noch zu sehr an den Zeilen seines Jugendidols Per Olov Enquist klebte, bis hin zum aktuellen Roman „Nachglühen“.

 

Ob nun der große Durchbruch mit seinem ersten Buch nach dem Erfolg 2007 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb bevorsteht, bleibt abzuwarten. Zunächst will sich Jan Böttcher nach zweieinhalb Jahren des einsamen Schreibens wieder dem geselligen Musikmachen widmen, denn seine Band „Herr Nilsson“ genießt erst einmal wieder Priorität.

 

 

15. MÄRZ 2008

KATHRIN WILDENBERGER: MONTAGSNÄCHTE

Kathrin Wildenbergers Debütroman „Montagsnächte“ ist nicht unwesentlich dafür verantwortlich, dass die Autorin heute in Leipzig lebt. Weil ihre Geschichte zu großen Teilen in der sächsischen Metropole spielt, war sie oft zu Recherchen hierher gekommen und hat sich „in die Stadt verliebt“. Inzwischen, so erzählte sie während der Lesung aus ihrem Roman, weiß sie die vielfältige Kulturszene Leipzigs zu schätzen und bereichert sie selbst gemeinsam mit einer Musikerin unter dem Namen „kunstbrigade“.

 

„Montagsnächte“ ist eine Liebesgeschichte vor dem Panorama des Herbstes ´89. Friedensgebete, Montagsdemos, Unterschriftensammlungen, heimliches Drucken von Flugblättern – Kathrin Wildenberger hat sowohl Massenphänomene als auch mutige Einzelaktionen in ihren Roman eingewoben. Genaue Recherche war ihr dabei wichtig. Sie habe mit vielen Protagonisten der Friedlichen Revolution gesprochen, im Archiv Bürgerbewegung und auch im Museum in der „Runden Ecke“ recherchiert. Umso wichtiger sei es ihr, das Buch gerade hier vorzustellen. Eingeflossen sind auch die persönlichen Erinnerungen der Autorin sowie die von Freunden und Familienmitgliedern. Dank ihrer fängt das Buch sehr genau die aufgeregte Atmosphäre vor der Ankunft von Westbesuch, die Angst während der Flucht über die österreichisch-ungarische Grenze oder die fiebrige Erwartungsstimmung Tausender in der überfüllten Leipziger Nikolaikirche ein. Manche Details aus dem DDR-Alltag seien – fast 20 Jahre nach dem Sturz des SED-Regimes – schon sehr verblasst gewesen, berichtete Kathrin Wildenberger.

 

Ania, die Protagnistin des Romans, steckt mittendrin im DDR-Alltag – sie macht eine medizinisch-technische Ausbildung in Halle – als sie durch ihre Zimmergenossin Miriam aus dem sozialistischen Einheitstrott herausgerissen wird. Die Freundin nimmt sie mit nach Leipzig und führt sie in eine Gruppe junger Oppositioneller ein, die in ihrer WG bis spätnachts über Reformen diskutieren und diese auch anpacken. Initiativen werden gegründet, Flugblätter verfasst, Ausstellungen gestaltet, und die Teilnahme an Friedensgebeten und Montagsdemos ist ohnehin obligatorisch. Hier trifft Ania Bernd wieder, eine Jugendliebe aus ihrem Heimatort. Obwohl dieser inzwischen mit Miriam liiert ist, entwickelt sich eine heimliche Liebesgeschichte, die intensiver und gefährlicher wird, je mehr sich die Ereignisse auf den Straßen Leipzigs im Herbst des Jahres 1989 überschlagen.

 

Wie die Friedliche Revolution das Leben der Menschen aus der Bahn warf, hat Kathrin Wildenberger selbst erlebt. Ihr Vater, so erzählte sie, war langjähriges SED-Mitglied und sah 1989 seine Lebensphilosophie in Frage gestellt. Das Thema hat Eingang in dem Roman gefunden; hier ist es Anias Vater, der sich während einer Gemeinderatssitzung plötzlich mit protestierenden Bürgern konfrontiert sieht, unter denen sich seine Ehefrau und seine Tochter befinden.

 

Den Weg ihrer Romanfiguren will Kathrin Wildenberger weiter verfolgen. Sie arbeitet bereits an einer Fortsetzung, die zehn Jahre nach dem Wendeherbst im wiedervereinigten Deutschland spielen soll.

 

 

15. MÄRZ 2008

JOCHEN STAADT / STEFAN WOLLE / TOBIAS VOIGT: OPERATION FERNSEHEN. DIE STASI UND DIE MEDIEN IN OST UND WEST

„Die DDR war eine geschlossene Gesellschaft. Die Türen waren verschlossen, die Fenster vergittert, aber man konnte hinaus blicken oder hinaus horchen, was in der Welt los war.“ Dieser treffende Vergleich, ausgesprochen während der Veranstaltung „Operation Fernsehen“, stammt von Dr. Stefan Wolle. Das Mitglied des Forschungsverbundes des SED-Staates an der Freien Universität Berlin beschrieb so die Zusammenhänge der Medienlandschaften von Ost- und Westdeutschland zu Zeiten der SED-Diktatur.

 

Das Bürgerkomitee Leipzig hatte sich bereits vor sieben Jahren schon einmal dem Thema gewidmet, als durch umfangreiche Medienrecherchen bekannt wurde, dass beim MDR ehemalige Stasi-Mitarbeiter beschäftigt seien. Die dadurch bundesweit ausgelöste Debatte zwang den MDR zur erneuten Überprüfung ihrer Mitarbeiterschaft, denn wie der Intendant des Senders, Udo Reiter, eingestehen musste, habe man Anfang der 90er das Problem unterschätzt. Oberflächliche Untersuchungen waren die Folge. Laut Reiter seien vor allem die Angestellten in den höheren Positionen überprüft worden, jedoch nicht die freien Mitarbeiter, welche aber wesentlich populärer gewesen seien, da sie vermehrt vor der Kamera arbeiteten. Die Konsequenzen seien für den Sender ein schmerzlicher, aber wichtiger Prozess gewesen, so der Intendant. In dessen Folge gab die ARD eine Studie in Auftrag, deren Ergebnisse in einer dreiteiligen Dokumentation mit dem Titel „Operation Fernsehen“ sowie einem gleichnamigen Buch verarbeitet wurden. Die Publikation konnte in der „Runden Ecke“ nicht wie geplant vorgestellt werden, da juristische Überlegungen der ARD deren Veröffentlichung bisher verhindert hatten.

 

Die Studie jedoch, die mehr als eine reine Personalüberprüfung sein sollte, wurde von Dr. Jochen Staadt, dem Leiter der Forschungsgruppe, vorgestellt. Das Hauptaugenmerk der Wissenschaftler lag auf der Offenlegung der Kontrollmethoden der Stasi gegenüber den Medien, so Wolle.

 

Eine Erkenntnis war, dass die Durchdringung im Bereich der Medien durch die Stasi höher gewesen sei als erwartet: Trotz bereits penibel ausgesuchter Mitarbeiter, die nicht selten „treue SED-Parteisoldaten“ gewesen sein sollen, gab es etliche Inoffizielle Mitarbeiter des MfS unter der Belegschaft. Auswuchs dieser Kontrolle des Fernsehens war die Schaffung so genannter Bildschirmpersönlichkeiten, welche restriktiven Anweisungen unterlagen. Das Zentralkomitee der SED hatte eine eigene Abteilung eingerichtet, welche für die Fernsehbeiträge zuständig war. Deutlich wurde die Zensur vor allem am Pendant der Tagesschau, der aktuellen Kamera.

 

Die Forscher betrachteten auch die Versuche der Einflussnahme seitens der DDR auf die West-Medien, die offenbar vielfältig waren: Sie reichten von lancierten oder gefälschten Dokumenten über Denunziationen bis hin zu Plänen von Terroranschlägen auf Sendeanstalten. Der Erfolg der Maßnahmen sei nicht direkt messbar. Zwar soll die SED-Spitze gefeiert haben, als die Sendung des als kalten Kriegers verunglimpften Gerhard Löwenthal in der Bundesrepublik abgesetzt wurde, jedoch sei dies mehr Produkt des Zeitgeistes gewesen, so Christhard Läpple, Redakteur des ZDF und Autor einer Fernsehdokumentation über die Staatssicherheit und die Medien. Die Gründe für die teilweise positive Berichterstattung in der Presse der Bundesrepublik über den SED-Staat sahen auch die anderen Diskussionsteilnehmer nicht in den Beeinflussungsversuchen der hierfür geschaffenen Abteilung „Desinformation“ der Auslandsspionage HVA. Uwe Müller, Journalist bei der Tageszeitung „Die Welt“, betrachtete diese „Unschärfe“ der Sichtweise auf den Staat eher als Folge der Entspannungspolitik, wohingegen Stefan Wolle die Ursache im Pluralismus sah. Udo Reiter gab zu bedenken, dass viele Journalisten etwas undifferenziert einem linken Milieu angehört und das sozialistische System als die Bestätigung ihres Weltbildes betrachtet hätten.

 

Dennoch gab es auch Probleme bei der Studie. So sei es nicht die Akteneinsicht bzw. die Zusammenarbeit mit der Birthler-Behörde gewesen, die sich als schwierig gestaltete, sondern der sich auftuende Zwiespalt zwischen Datenschutz und Publikationsfreiheit. Nach Ansicht Wolles behindert der „falsch verstandene Datenschutz“ die weitere Erforschung sowie Veröffentlichung neuer Erkenntnisse. Gerade kleinere Zeitungen würden von vorn herein auf Berichterstattung verzichten, da sie kostspielige Gerichtsverfahren fürchteten, so Müller. Für die Veröffentlichung der Buchfassung der Studie setzte sich Udo Reiter trotz aller juristischen Schwierigkeiten ein. Aus dem Publikum musste er sich dennoch Vorwürfe gefallen lassen, der MDR würde zur Geschichtsverzerrung beitragen oder wäre gar „DDR-Fernsehen“. Dies wies er entschieden zurück: Es gebe keine ehemaligen Stasi-Mitarbeiter unter der Belegschaft mehr. Und selbst wenn, würden diese wohl kaum ihre Propaganda im Sendeprogramm ausleben, sondern sich unauffällig angepasst verhalten. Dennoch sei dem MDR ein gewisser undifferenziert kritischer Umgang mit dem Thema nicht abzusprechen, so Moderator Tobais Hollitzer, Leiter des Museums in der „Runden Ecke“.

 

An den Reaktionen des Publikums sowie der beträchtlichen Besucherzahl ließ sich ablesen, dass noch gesteigertes Interesse am Thema herrscht und weitere Aufarbeitung sowie Zuwendungen für die Opfer erforderlich scheinen, denn die Nachwirkungen sind noch zu spüren. Christhard Läpple vom ZDF ist der Ansicht: „Es gibt keinen Schlussstrich, das ist Geschichte, Geschichte wird immer wieder neu erlebt.“

 

 

16. MÄRZ 2008

LUTZ RATHENOW: DAS GESPALTENE KINDERBUCH

Es waren einmal zwei Stinktiere. Sie stritten sich darum, welches von beiden wohl besser stinken könne. Sie beschimpften sich und stanken um die Wette. Da beschlossen sie, den nächsten, der vorbeikäme zu fragen, wer besser stinken würde. „Aber es kam niemand.“ Mit dieser Geschichte eröffnete Lutz Rathenow seine Lesung. Vom Publikum wollte der Autor wissen, warum die Geschichte von den zwei Stinktieren in der DDR wohl nicht als Pappbilderbuch veröffentlicht wurde, obwohl andere Texte von ihm erlaubt waren.

 

„Kinderbücher lassen die Welt gestaltbar erscheinen“, sagte Lutz Rathenow, und begründete damit, wie wichtig Bücher für Kinder vor allem im Erstlesealter seien. Er stellte sehr bildlich anhand von Erfahrungen, die er im Zuge seiner Lesereisen gemacht hatte, dar, wie bucharm die so genannten bildungsfernen Milieus sind. Viele Kinder bekämen oftmals erst in der Schule den ersten Kontakt zu Büchern, obwohl das Kinderbuch wohl das einzige Buch sei, das sie freiwillig in die Hand nehmen und darin blättern. Kinder möchten beschäftigt werden, und viele langweilten sich im Umgang mit bestimmten Medien. Daher stelle sich der Auftrag an die politische Bildung, sie „soll zum Lesen verführen“. Denn dadurch würde die Fantasie angeregt und vielleicht der Weg zu literarischer Bildung eingeschlagen.

 

Die Öffentlichkeit beschäftige sich wenig mit Kinderbüchern, obwohl doch bekannt sei, dass Lesen eine wichtige Grundlage für die Sprachentwicklung eines Kindes darstellt. Der Autor kreidete an, dass die heutige Bundesrepublik in starkem Kontrast zu der ehemaligen DDR stehe, da letztere an Kinderbücher einen pädagogisch ermittelten Erziehungsanspruch gestellt habe. Allerdings bereite es ihm Unbehagen, dass gerade in Ostdeutschland so zahlreich Werbung für DDR-Kinderbücher gemacht würde, obwohl es auch gute neue Literatur gebe. Viele Eltern und Großeltern kauften ihren Kindern einfach Bücher, die sie selbst einmal gelesen haben und durch die sie sich an ihre eigene Kindheit erinnert fühlen. Bei DDR-Büchern müsse man aber berücksichtigen, aus welcher Zeit diese stammten und unter welchen Bedingungen sie veröffentlicht wurden.

 

Da Kinder heute nach Einschätzung Rathenows oft nicht mehr Kinder sein wollen, geraten Kinderbücher in den Hintergrund. Der Autor hat schon viele unterschiedliche Reaktionen auf seine Lesungen erlebt. Da lachten vor allem die Kinder der vierten und fünften Klassen lauthals über seine Erzählungen, obwohl sie sich solche Bücher niemals kaufen würden. In diesem Alter seien Kinderbücher schon allein des Namens wegen uninteressant. Eine Statistik besagt, dass in Deutschland pro Jahr und pro Kind nur 0,2 Bücher gekauft werden, was bei den Zuhörern sichtliches Erstaunen hervorrief. Allerdings sei die Erhebung nicht ganz vollständig, weil der Erwerb von Büchern in Bibliotheken und Schulen ausgenommen wurde, sagte Rathenow.

 

Nach seinem Plädoyer für die Bedeutsamkeit des Bilderbuches im Erstlesealter als Mittel der literarischen und politischen Bildung klärte Lutz Rathenow das Publikum darüber auf, warum die Geschichte der zwei Stinktiere in der DDR nicht als Pappbilderbuch veröffentlicht wurde. Die Begründung lautete, dass die zwei Tiere wohl den Osten und den Westen darstellten und der Sieg des Sozialismus in Frage stellen würde, weil er genauso stinke wie der Westen.

 

 

16. MÄRZ 2008

PETER GEHRISCH: HANS THEODORS KARNEVAL ODER DAS FEDERNORAKEL

Flammen, entstellte Menschenkörper, abgetrennte Extremitäten – Peter Gehrisch mutet den Lesern seines Romans „Hans Theodors Karneval oder das Federnorakel“ einiges zu. „Danteske Gestalten bevölkern die Hölle“, heißt es in dem Buch, das der Dresdener Autor zum Abschluss des „Leipzig liest“-Programms im Museum in der „Runden Ecke“ vorstellte. Begleitet wurde er dabei von Wieland Wagner am Marimbaphon. Der Musiker verstand es, die Stimmung der gelesenen Texte einzufangen und in Klänge zu übersetzen.

 

Die Geschichte von Hans Theodor Schankenburg, so der Name des Protagonisten, schuf eine beklemmte Stimmung, wurde das Publikum doch unmittelbar hineingeworfen in eine detailreiche Schilderung der Dresdner Bombennächte im Zweiten Weltkrieg. Hans-Theodor irrt mit seiner Mutter Marlene durch die brennende Stadt, auf der Suche nach einem sicheren Ort, den es doch nirgends gibt. Wiedergegeben ist dieses Inferno aus der Sicht des kleinen Jungen, der es als groteske, mörderische Karnevalsveranstaltung schildert – für ihn die einzige Möglichkeit, das Unbeschreibbare zu beschreiben. Da werden versengte Menschen zu „Faunvolk“, das rettende Boot auf der Elbe zum „Narrenschiff“.

 

„Das Federnorakel“ steht in der Tradition barocker Schelmenromane und lässt auch Hans Theodors Erlebnisse in den Folgejahren – Begegnungen mit russischen Soldaten, Absurditäten der Nachkriegsjahre, Schule und Junglehrerdasein in der DDR – als ein großes und gleichermaßen tief tragisches Varieté vorbeiziehen. Bis zum Einmarsch der Streitkräfte des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei 1968 verfolgt Peter Gehrisch das Leben seines Romanhelden.

 

 

 

+++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++

 

AUS DEM GÄSTEBUCH

 

+++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++

 

Mehrere tausend Menschen besuchen monatlich die Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ mit dem Museum im Stasi-Bunker. Manche leben in Leipzig und kommen – häufig mit Gästen – immer wieder in die Ausstellung. Andere kommen von weit her zu Besuch in die Stadt und wollen hier sehen, wo und wie vormals das berüchtigte Ministerium für Staatssicherheit arbeitete.

 

Viele unserer Besucher hinterlassen eine Notiz im Gästebuch und schreiben hier ihre Eindrücke nieder, die sie in der Gedenkstätte gesammelt haben. Unter dieser Rubrik wollen wir monatlich einige dieser Einträge an Sie weitergeben.

 

„[...] Zu Zeiten in denen eine sog. „Linke“ in deutschen Parlamenten in kaum fassbarem Maße kursiert, ist es umso wichtiger, die Wurzeln dieser Partei zu vergegenwärtigen. […]“

Eintrag eines Besuchers vom März 2008

 

„Brief in den Westen:

‚Liebe West-Omi vielen Dank für dein Paket! Der Revolver ist angekommen und wir haben ihn sicher im Gemüsebeet vergraben.’

Eine Woche später:

‚Liebe West-Omi, die Stasi hat den Vorgarten komplett umgegraben. Du kannst die Frühlingszwiebeln jetzt schicken.’

[…]“

DDR-Witz, eingetragen von einer Besucherin vom 14.03.2008

 

„‚Denn es ist klar, das die Zukunft nicht den Zaudernden gehört- sondern denen- die ohne schwach zu werden das durchstehen- wofür sie sich einmal entschieden haben.’ Roman Rolland

Mit lieben Grüßen für Sie mein ‚Leitspruch’ bis heute.“

Eintrag von Jutta Fleck „Die Frau vom Checkpoint Charlie“ vom 15.03.2008

 

 


 



Unser Newsletter informiert Sie immer aktuell über Neuerungen, Aktionen und Ereignisse rund um die Gedenkstätte Museum in der Runden Ecke.
Wenn Sie sich abmelden oder Ihre Daten ändern möchten klicken Sie HIER.
Sollte dieser Link nicht funktionieren, überprüfen Sie bitte Ihre Spam-Mails oder schreiben Sie uns eine Email unter: mail@runde-ecke-leipzig.de

   
   
 

Weitere Informationen erhalten Sie auf unserer Homepage.

Die Arbeit des Bürgerkomitees wird gefördert durch die Stiftung Sächsische Gedenkstätten aus Mitteln des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien auf der Grundlage eines Beschlusses des Deutschen Bundestages und des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst sowie durch die Stadt Leipzig und den Kulturraums Leipziger Raum.

************************************************************************
Bürgerkomitee Leipzig e.V.
für die Auflösung der ehemaligen Staatssicherheit (MfS)
Träger der Gedenkstätte
Museum in der „Runden Ecke“ mit dem Museum im Stasi-Bunker
Dittrichring 24, PSF 10 03 45, D-04003 Leipzig
Tel.: (0341) 9 61 24 43 * Fax: (0341) 9 61 24 99
http://www.runde-ecke-leipzig.de
mail@runde-ecke-leipzig.de
************************************************************************