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  Newsletter Januar 2011

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

 

zu Beginn des Jahres 2011 kann das Bürgerkomitee Leipzig e.V. zunächst einmal zufrieden zurück blicken: Zwei Jubiläumsjahre mit einem Besucherrekord, zahlreiche Veranstaltungen und nicht zuletzt das große Ausstellungsprojekt „Leipzig auf dem Weg zur Friedlichen Revolution“ leistete einen wichtigen Anteil an der Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur in der DDR und erinnert eindrucksvoll an deren friedliche Überwindung. Von dem Erfolg der letzten Jahre wird die Gedenkstätte auch in ihrer kontinuierlichen Arbeit profitieren und sieht 2011 neuen Projekten entgegen: Mit dem 15-jährigen Jubiläum des Museums im Stasi-Bunker im September feiert die Gedenkstätte eine gelungene Art der Aufarbeitung. Der 50. Jahrestag des Mauerbaus hingegen stellt ein leidvolles Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte dar.

 

Nur noch für kurze Zeit ist außerdem die Sonderausstellung „Leipzig auf dem Weg zur Friedlichen Revolution“ zu sehen. Für alle, die noch an einer Führung interessiert sind, besteht am 14. Januar 2011, um 16.30 Uhr, die Möglichkeit, an einem öffentlichen Rundgang teilzunehmen. Weitere Informationen erhalten Sie in der Rubrik „Wir laden ein“.

 

Wir wünschen Ihnen ein gesundes neues Jahr 2011 und nun viel Vergnügen beim Lesen des Newsletters..

 

Ihr Bürgerkomitee Leipzig

 

 

 

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INHALT

Wir laden ein

Aus der Arbeit der Gedenkstätte

Rückblick

Aus dem Gästebuch

 

 

 

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WIR LADEN EIN

 

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14. JANUAR, 16.30 UHR ÖFFENTLICHE FÜHRUNG DURCH DIE SONDERAUSSTELLUNG „LEIPZIG AUF DEM WEG ZUR FRIEDLICHEN REVOLUTION“

Die einmalige Schau zum Doppeljubiläum von Friedlicher Revolution und Deutscher Einheit ist nur noch für kurze Zeit im Museum in der „Runden Ecke“ zu besichtigen. Mit originalen Flugblättern, Demofotos, Filmen, Plakaten und Dokumenten zeichnet die Ausstellung die Entwicklung der Leipziger Oppositionsgruppen nach und orientiert sich an den konkreten Aktionen des politischen Widerstandes in Leipzig im Jahr 1989: Die Montagsdemonstrationen zur Leipziger Frühjahrs- und Herbstmesse, die Kommunalwahlen vom 7. Mai, das Straßenmusikfestival am 10. Juni, die entscheidende Montagsdemonstration am 9. Oktober und nicht zuletzt die Besetzung der Leipziger Stasi-Zentrale am 4. Dezember 1989 seien hier nur als einige Schlaglichter genannt. Die Gründung des Neuen Forums, das Entstehen der Runden Tische und die ersten freien Wahlen im März und Mai 1990 waren wegweisend für die Demokratisierung des Landes.

Eingebettet sind die Ereignisse in Leipzig zudem in den Kontext eines friedlichen Umbruchs in Ost-Mitteleuropa und stehen exemplarisch für die Entwicklungen in ganz Deutschland. Damit präsentiert das Bürgerkomitee Leipzig e. V., das direkt aus der Friedlichen Revolution hervorging und heute das Museum in der „Runden Ecke“ betreibt, eine der wichtigsten Epochen der jüngeren deutschen Geschichte und lädt zu spannenden neuen Entdeckungen ein.

 

Treffpunkt: Museum in der „Runden Ecke“, ehemaliger Stasi-Kinosaal

 

Geöffnet ist die Schau täglich von 10.00 bis 18.00 Uhr. Der Eintritt in die Sonderausstellung ist frei.

 

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RÜCKBLICK

 

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4. DEZEMBER 2010 21.JAHRESTAG DER BESETZUNG DER STASI-BESIZKRVERWALTUNG LEIPZIG PODIUMSDISKUSSION „TÄTER HABEN EIN GESICHT“

„Die sich des Vergangen nicht erinnern, sind dazu verurteilt, es selbst noch einmal zu erleben.“ So zitierte der Jurist Prof. Dr. Johannes Weberling den indischen Philosophen Santayana und appellierte in seinem Impulsreferat zur Rechtslage der Namensnennung von Stasi-Mitarbeitern an das Publikum „die Scheinwerfer der Öffentlichkeit auf die Dunkelmänner der Vergangenheit und ihre Taten zu richten“. Kompliziert sei in diesen Fällen die Abwägung zwischen Persönlichkeitsrecht und der allgemeinen Meinungsfreiheit, wie sie eine freiheitliche Demokratie verlangt. Aus dem Blick der Arbeitsgruppe Aufarbeitung und Recht, die sich besonders für Presse-, Informations- und Meinungsfreiheit einsetzt, habe sich die Lage in den letzten Jahren zu dieser Problematik gebessert, dass mittlerweile viele Gerichte die Nennung der Namen von Stasi-Mitarbeiter per Gerichtsurteil bestätigen.

 

Das Argument, dass das Persönlichkeitsrecht überwiegt, weil das Öffentlichkeitsinteresse 20 Jahre nach dem Mauerfall gering sei, verkenne den Schutzbereich der Meinungsfreiheit grundlegend. Johannes Weberling informierte über die rechtliche Grundlage der Namensnennung, die Meinungsfreiheit und die Selbstbestimmung des Einzelnen. Das öffentliche Interesse an der Namensnennung der Täter sei ein zusätzlicher Grund. Die Wissenschaftsfreiheit überwiege gegenüber dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Stasi-Mitarbeiter. Ebenso regelt das Stasiunterlagengesetz die Zulässigkeit der Namensnennung von Stasi-Mitarbeitern, wenn es der Wahrheit entspreche und der Täter keinen schützenden Belang geltend macht.

 

Michael Beleites, Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, der in diesem Amt zum letzten Mal in der „Runden Ecke“ war, bedankte sich in seinem Grußwort für die umfangreiche Arbeit zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die die verschiedenen Einrichtungen und Personen in Sachsen leisten. Die Namensnennung von Stasi-Mitarbeitern sei selbstverständlich und erforderlich. Zur Aufarbeitung gehöre auch eine gute Vernetzung der Behörden sowie der Einrichtungen, um die Strukturen des MfS gänzlich zu erfassen. Wichtig sei bei allem jedoch das Mitgefühl mit den Opfern.

 

Christhard Läpple, ZDF-Redakteur und Moderator führte über die Täterfaszination der Medien in die aktuelle Debatte zur Namensnennung der Stasi-Mitarbeiter und damit auch in die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit ein. „Was bringt das jetzt 20 Jahre danach noch mal über diesen Punkt zu diskutieren?“, fragte Läpple in die Runde der Podiumsgäste. Geladen waren Uwe Müller, Redakteur der Tageszeitung „Die Welt“, Tobias Hollitzer, Leiter der Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“, Dr. Joachim Heinrich, Autor der Internetseite www.stasi-in-erfurt.de, sowie der Rechtsanwalt Prof. Dr. Johannes Weberling, der eingangs das Impulsreferat gestaltete. Leider konnte der Abteilungsleiter Auskunft der BStU Herr Joachim Förster krankheitsbedingt nicht an der Diskussion teilnehmen.

 

Dr. Joachim Heinrich leitete Ende der 1980er Jahre eine Umweltgruppe und geriet so ins Visier der Stasi. Um die Gruppe auseinander zu bringen streute das MfS mit Hilfe des IM „Schubert“ das Gerücht, Heinrich sei ein IM. Nach seiner Akteneinsicht lüftete sich der Ursprung dieses Gerüchts und IM „Schubert“ wurde enttarnt. Um seine Vergangenheit aufzuarbeiten gestaltete der Naturwissenschaftler Heinrich vor wenigen Jahren die Internetseite www.stasi-in-erfurt-de. Dort veröffentlichte er den Klarnamen des IM, der als vermeintlicher Bürgerrechtler bei der Besetzung der Erfurter Stasibezirksverwaltung in Erscheinung trat und auf einem bekannten Foto veröffentlicht ist. „Die Meteorologen kennen zwei Begriffe von Temperatur, nämlich die Temperatur, die sie vom Thermometer ablesen und eine gefühlte Temperatur und diese Temperaturen sind nicht immer identisch. So ähnlich sei das bei vielen, die sich mit Recht und gefühltem Recht auseinandersetzten.“ Der Konflikt zwischen dem enttarnten IM und Heinrich kam vor das Landesgericht. Das Recht auf eine unverfälschte Tatsachendarstellung überwog gegenüber dem Persönlichkeitsrecht und so gewann Dr. Heinrich den ersten Prozess. Der IM „Schubert“ ging in Berufung. Die Kosten trägt Heinrich bisher allein.

 

Uwe Müller berichtete, dass dies kein Einzellfall sei. In den letzten vier Jahr habe es neun presserelevante Fälle gegeben, in denen die benannten Stasi-Mitarbeiter vor Gericht zogen. Auch würden Medien von Anwälten der ehemaligen Stasi-Mitarbeiter eingeschüchtert werden. Drohungen mit Gegendarstellungen und Schadensersatz bereits vor der Veröffentlichungen und Gerichtsverfahren nach der Berichterstattung seien nicht selten. Diese Verfahren seien sehr zeit- und kostenaufwendig und einige Artikel würden so über zwei Jahre „eingefroren“. Dies würden sich zunehmend nur noch große Redaktionen leisten. Viele schrecken inzwischen vor der Veröffentlichung solcher Themen zurück.

 

„Im Bereich der wissenschaftlichen Aufarbeitung: Tobias Hollitzer, warum ist es so wichtig den Namen eines Oberleutnants zu kennen?“ fuhr Läpple fort. Von Anfang an sei klar gewesen, dass hauptamtliche Mitarbeiter mit ihrem Namen genannt werden, betonte Hollitzer, so etwa die Leiter der Kreisdienststellen und Bezirksverwaltungen, die auch in der Dauerausstellung „Stasi - Macht und Banalität“ von Beginn an präsentiert werden. Auch sei die Nennung besonders wichtig, um Geschichte zu rekonstruieren und die Geschehnisse nachvollziehbar zu machen. Die Frage, ob noch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung wirklich alle ehemaligen Stasi-Mitarbeiter, egal ob oben oder unten in der Hierarchie, beim Namen genannt werden müssten, bejahte Hollitzer: „Jedoch sollte das Auswahlkriterium der Darstellungswürdigkeit immer Priorität haben“, gab er weiter zu bedenken. Joachim Heinrich betonte, dass „die Namensnennung zur historischen Aufarbeitung“ besonders wichtig sei. Johannes Weberling zog die Konsequenz aus der fehlgeschlagenen NS-Aufarbeitung in Westdeutschland und plädierte für eine Rekonstruktion der Geschichte durch Täter und Opfer. So müsse man offen über Ereignisse reden können.

 

„Sagen sie mal wie Sie, als Jurist und Historiker, das Stasiunterlagengesetz empfinden. Ist es ein Revolutionsgesetz? Etwas Besonderes um das uns viele Länder beneiden?“ fragte Läpple Professor Weberling. Das Besondere an diesem Gesetz sei der Entstehungsprozess durch die Friedliche Revolution. Außerdem sei es etwas einmaliges und neues, was es in ähnlicher Form in keinem anderen Land gibt. Weberling merkte an, dass durch dieses Gesetz die Aufarbeitung schnellst möglich realisiert werden konnte. Die ursprüngliche Intention der westdeutschen Regierung und der ostdeutschen Verhandlungspartner, die Stasi-Unterlagen im Bundesarchiv einzulagern und erst Jahrzehnte später zu analysieren und einzusehen, konnte so verhindert werden.

 

„Wenn wir sagen, das ist ein Revolutionsgesetz, dann ist es ein Ausnahmegesetz in der Geschichte seit 1945. Dann ist es ja auch nachvollziehbar, dass es in der Rechtswelt in den letzten 20 Jahren Widerstände dazu gibt“, so der Moderator Läpple. Ja, es sei etwas besonderes, dass man aktiv mit der Geschichte umgehen und aus den Fehlern der Vergangenheit lernen könne, fügte Weberling hinzu. Joachim Heinrich berichtete von einer Veränderung im Umgang mit dem Stasiunterlagengesetz und der Nennung der Namen von Stasi-Mitarbeitern. Er beschrieb, dass Gerichte mittlerweile das allgemeine Persönlichkeitsrecht unter die Meinungsfreiheit ordnen und so einige Prozesse für die Namensnennung gewonnen werden konnten. Gleichzeitig habe sich aber auch die Berichterstattung verändert, Artikel würden angeprangert und Zeitungen zu einer Gegendarstellung von ehemaligen Stasi-Mitarbeitern verpflichtet werden. Auch habe Müller die Zurückhaltung von Nachrichtenagenturen bemerkt, die erst später in die Berichterstattung eingestiegen seien um so ein mögliches Prozessrisiko zu minimieren.

 

Nicht nur der journalistische Bereich sei von der Veränderung betroffen. Auch Institutionen wie die BStU seien möglichen gerichtlichen Auseinandersetzungen ausgewichen und ließen so kleine Einrichtung wie die Gedenkstätte „Der Rote Ochse“ in Halle, die sich um die Aufarbeitung der dortigen Haftanstalt bemüht und sich aktiv für eine Namensnennung einsetzten „im Regen stehen“, berichtete Hollitzer. Bereits vor Jahren habe die BStU die Organisationsstruktur der verschiedenen Bezirksverwaltungen mit Nennung der Namen der jeweiligen Leiter und ihrer Biographien erarbeitet. Das Organigramm der Bezirksverwaltung Gera war genau zwei Tage auf der Internetseite online. Dann wurde es aufgrund von Beschwerden ehemaliger hauptamtlicher Stasi-Offiziere wieder vom Netz genommen. Bis heute habe sich die BStU gegen eine Veröffentlichung entschieden.

 

Problematisch sei momentan, dass durch die früheren Entscheidungen von Gerichten die Namensnennung der Täter keine Rolle in der Öffentlichkeit gespielt habe und die Gesellschaft jetzt vor jeder Namensnennung zurückschrecke, berichtete Uwe Müller. Die gefühlte Rechtssituation sei mit der Lage vor etwa zehn Jahren kompatibel. Heute sei aber wieder wesentlich mehr möglich.

 

Im Anschluss begann eine Debatte mit dem Publikum. So wurde eine Auflistung der Namen aller Stasi-Mitarbeiter gefordert. Auch wurde mit den Podiumsgästen über die Aufarbeitung des MfS und deren Taten diskutiert. „ Was verstehen Sie unter Tätern?“, so fragte ein junger Mann die Podiumsrunde zum Schluss. „Täter kommt von tun“, so Hollitzer, alle für das Funktionieren der Diktatur Verantwortlichen seien Funktionäre und damit Täter. Grundsätzlich seien auch Stasi-Mitarbeiter Täter, man müsse jedoch auch unterscheiden zwischen relevanten und unrelevanten Bereichen.

 

„Wikileaks ist in aller Munde. Was darf man, was darf man nicht. Hätten Sie 1990 schon das Internet gehabt, was hätten Sie gemacht?“ fragte Läpple letztmals in die Runde. Uwe Müller berichtete, dass das tschechische Model die Akten in das Internet zu stellen, für ihn keine Variante gewesen sei, obwohl es Vorteile gäbe. „Bei der Darstellung eines Sachverhaltes auf regionaler Ebene“, erklärte Heinrich sei das Internet hilfreich gewesen. Für Tobias Hollitzer war klar, dass, sie damals nicht das Internet zur Veröffentlichung von Akten genutzt hätten, selbst wenn sie die Möglichkeit gehabt hätten. Heute sähe er es etwas anders. Die Liste aller 1989 aktiven hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter steht seit Jahren im Internet. Geschadet habe es nicht, aber dabei geholfen viele Skandale aufzuklären, nicht zuletzt die hohe Anzahl von Stasi-Offizieren bei der BStU. Der Jurist Johannes Weberling äußerte sich gegen den Vorschlag, man hätte 1990 schon alle Namen veröffentlichen sollen, da die Arbeitsweise des MfS noch völlig unerforscht war. Auch heute gebe es da noch viel zu tun.

 

 

6. DEZEMBER 2010, 19.00 UHR, EHEMALIGER STASI-KINOSAAL

„WIR SIND DAS VOLK“ – MONTAGSGESPRÄCH IN DER „RUNDEN ECKE“ MIT MARTIN JEHNICHEN

„In der Tat sehe ich oft mehr als ich höre, ich kriege mehr mit wie derjenige agiert, wie als was er sagt“, fasste der Fotograf Martin Jehnichen, der letzte Gast der Veranstaltungsreihe „Wir sind das Volk!“ – Montagsgespräche in der „Runden Ecke“, seine Eigenheiten zusammen. Als letzten Gast der Montagsgespräche begrüßten die Moderatoren Tobias Hollitzer und Reinhard Bohse den Fotografen Martin Jehnichen, der in Westdeutschland aufwuchs, die DDR bei Besuchen kennenlernte, als Gaststudent nach Leipzig kam und durch seine Fotos zu einem wichtigen Chronisten des Herbstes ´89 wurde.

 

Martin Jehnichen wurde 1962 in Karlsruhe geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in einem Dorf bei Tübingen. Alles sei ihm zunächst fremd erschienen, vor allem der schwäbische Dialekt, an den er sich jedoch schnell gewöhnt habe. Sein Vater stamme aus Freiberg, von wo er 1955 geflohen war. Er erzählte den Kindern, dass man ihn dort zu sehr gegängelt habe. Jehnichen besuchte das Uhland-Gymnasium in Tübingen, wo er erstmals für die Schülerzeitung fotografierte. Seine Fotoreihen sollten schon damals Geschichten erzählen, so beschrieb eines seiner ersten Motive die Weiternutzung des Pferdemists.

 

Seine Großeltern väterlicherseits wohnten in der DDR. Bis 1968 konnten sie sich nicht besuchen. Schließlich öffnete sich der Weg von West nach Ost, die Familie reiste regelmäßig in die DDR. Es sei immer etwas Seltsames gewesen, die DDR. Die Reisen seien gründlich vorbereitet worden. Besonders der Grenzübergang sei ihm in Erinnerung geblieben. Seinen Vater habe er sonst nie wieder „so klein“ erlebt. Gefährlich und beklemmend sei es die ganze Zeit über gewesen. Eines gab es jedoch, was Martin Jehnichen damals zu seinen Lieblingsmotiven zählte und es in Westdeutschland nicht mehr gab, die Dampflokomotive. Während der Besuche bei den Großeltern verbrachte Jehnichen seine Zeit damit, auf Bahnhöfen herumzulaufen und Fotos zu machen.

 

Nach seinem Abitur 1981 begann Jehnichen ein zweijähriges Volontariat beim Tübinger Tageblatt. Hier habe er zumeist Verkehrsunfälle und Einweihungen durch den Bürgermeister fotografiert. Seinen Zivildienst leistete er in einer Augenklinik in Tübingen ab. In der dortigen Fotografieabteilung habe er über das Fotografieren viel mehr gelernt als beim Tageblatt. Zu dieser Zeit war Jehnichen in der kirchlichen Friedensbewegung aktiv, die von der Anti-Atom-Bewegung schnell abgelöst worden sei. Er beschrieb eine allgemeine Aufbruchsstimmung, so habe es in seiner Stufe mehr Zivildienst- als Wehrdienstleistende gegeben. Der grüne Parka mit den vielen Aufnähern und die zerrissenen Jeans seien damals ein absolutes Muss gewesen. Für ihn war die DDR allerdings damals schon keine besser Alternative zur Bundesrepublik, auf beiden Seiten sollte abgerüstet werden.

 

Nach seinem Zivildienst begann Jehnichen an der Universität Bielefeld Fotodesign zu studieren. Besonders faszinierte ihn die Engagierte Fotografie, hier könne man Stellung beziehen und ins Weltgeschehen eingreifen. Demonstrationen, Wohnprojekte und Aussiedler haben ihn und seine Kamera zu dieser Zeit stark angezogen. Sein politisches Engagement habe sich in seinen Fotos von Veranstaltungen und Aktionen ausgedrückt, obwohl er immer eine Distanz zum Geschehen hielt.

 

Mit einer Gruppe von Fotografen organisierte Jehnichen eine Ausstellung über Missstände in der Bundesrepublik. Sie hatten schon früh die Idee gehabt, die Ausstellung auch in der DDR zu zeigen. Die Möglichkeit bot sich in Erfurt und so zeigten sie die Schau. Naiv sei ihr Blick gewesen, den DDR-Bürgern Missstände in der Bundesrepublik zeigen zu wollen. Die Gästebucheinträge haben ihnen dann gezeigt, dass sie durch ihre Ausstellung die Propaganda der SED-Regierung unterstützten.

 

Im 5. Semester bot sich Martin Jehnichen die Möglichkeit ein Gastsemester in der DDR zu verbringen. Er hätte auch nach Großbritannien oder Frankreich gehen können, doch hatte er den familiären Bezug zur DDR. Auch habe er damals das Gefühl gehabt das Land sei in Bewegung. Auf Nachfrage von Reinhard Bohse berichtete Jehnichen, dass sich die Menschen schon im Frühjahr 1988 unzufrieden mit der Freiheitslage und dem DDR-System zeigten. In Leipzig sei er in der Dimitroffstraße bei einer seltsamen Familie untergekommen. Er hatte schon damals den Verdacht, dass diese Menschen nur seinetwegen eine Familie spielten und sie von der DDR arrangiert worden waren. Diese Vermutung konnte er aber nie belegen, weshalb er den Namen der Familie für sich behielt. Die neue Umgebung zeigte ihm eine Welt wie durch eine „Retro -Brille“, vor den Häusern Lagen Briketts und es gab noch Wäscherollen. Seine ersten Fotos zeigen die alten Tatrabahnen und eine winterliche, verwunschene Welt.

 

An der Hochschule sei penibel darauf geachtet worden ihm alles zu zeigen, nichts sollte den Anschein erwecken, dass etwas vertuscht würde. Die Atmosphäre sei leicht und unangespannt gewesen, vieles sei mit einem Augenzwinkern besehen worden.

 

Zu Weihnachten 1988 arbeitet Jehnichen an einem außergewöhnlichen Projekt. Neugierig sei er auf die weihnachtlichen Wohnzimmer der identischen Wohnungen der Plattenbauten gewesen, so klingelte er bei verschiedenen Familien und fotografierte die unterschiedlichen Inneneinrichtungen. Individualität in Gleichförmigkeit habe diese Bilderreihe gezeigt, da es nur drei Stellen in diesen gleichen Wohnzimmern gegeben habe, wo der Tannenbaum hätte stehen können. Nach wenigen Aufnahmen sei die Volkspolizei angerückt und habe ihn zur Rede gestellt. Er sei verdächtigt worden eine Umfrage zu machen und wurde des Platzes verwiesen. In Westdeutschland wäre eine solche Reaktion unmöglich gewesen.

 

Anfang 1989 endete sein Auslandssemester in der DDR. Doch sollte es nicht sein letzter Besuch im Osten gewesen sein. Schon zum Kirchentag im Sommer habe er ein Visum bekommen und sei zurück nach Leipzig gefahren. Die Stimmung sei interessant und revolutionär gewesen. Auf der Abschlussveranstaltung habe er Fotos von den zusammenströmenden Menschen mach können, die schließlich mit Demokratie-Transparenten Richtung Innenstadt liefen. An diesem Tag habe er auch beobachtet, wie Menschen in eine scheinbar harmlose Straßenbahn gezogen wurden und mit ihr abtransportiert wurden.

 

„Was haben Sie von den Entwicklungen in Leipzig in der Bundesrepublik mitbekommen?“ fragte Tobias Hollitzer. Es habe fast täglich Meldungen im Fernsehen und im Radio über die Entwicklungen in der DDR gegeben. Alles habe sich auf einen ungewissen Scheitelpunkt zugespitzt. Jehnichen wollte dabei sein und reiste zum 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR wieder nach Leipzig. Plötzlich sei er mittendrin gewesen in einer unorganisierten Menschenmasse auf dem Nikolaikirchhof und habe als Fotograf an der richtigen Stelle gestanden. Dann kam die Volkspolizei, die mit dem Satz „Keine Gewalt“ begann, die Demonstranten einzusammeln. Dass dieser Demonstrantenruf so schnell von der Volkspolizei kopiert und missbraucht wurde, entsetzte ihn schon damals. Jehnichen habe genau von diesen Szenen Bilder machen können: Das Rennen über den Platz, Verletzte, Menschen die Verletzten geholfen haben. Um seine Film zu wechseln, versteckte er sich schließlich in einer Ecke, wo er geschnappt wurde. „Ham sie mal Feuer?“, so sei Jehnichen dort von drei zivilgekleideten Männern angesprochen worden, die ihn daraufhin verprügelten. Er wurde von einem Lada abgeholt ohne Ausweis und Fotoapparate. Stundenlang habe er dann in einem Raum irgendwo in Leipzig gewartet, später wurde er in ein Sammellager gebracht wo er wieder von den anderen getrennt worden sei. „Er bin als Tourist da und zufällig dabei gewesen“ habe er bei den Verhören beteuert. Es folgte seine Ausweisung aus der DDR, sogar die Kameras wurden im zurückgegeben. Zu bedauern sei letztlich der Verlust der Filme, die in den Kameras waren, außer einem, der im Gehäuse steckte, das die Stasi nicht aufbekommen hatte.

 

Den 9. Oktober habe er in Westdeutschland verfolgt. Die Tagesthemen haben dann endlich die ersten Bilder vom friedlichen Verlauf der Montagsdemonstration in Leipzig gezeigt. Den Mauerfall erlebte Jehnichen in Bielefeld mit einem DDR-Bürger der über Ungarn ausgereist war. Nachts gegen 1 Uhr habe die Spiegelredaktion ihn erstmals angerufen und ihn für die Dokumentation der Grenzöffnung im Harz engagiert, so dass er diese Zeit dort erlebte. Wann er den Ausruf „Wir sind das Volk“ das erste Mal gehört habe fragten die Moderatoren. Er erinnere sich an ein Schild, wo drauf stand „Ich bin Volker“, das er schon im Januar 1990 gesehen habe. Daraus schlussfolgerte Martin Jehnichen, dass er „Wir sind das Volk“ erstmalig im November oder Dezember 1989 gehört haben musste.

 

Ab Dezember lebte Martin Jehnichen wieder in Leipzig. Die Stadt habe sich total verändert. Zum Teil sei es zu aggressiven Zusammenstößen zwischen Bündnis- und Kohlwählern gekommen. Er gründete mit einigen anderen Fotografen zu nächst die Agentur Lichtblick, später wurde er Teil der Agentur transit. Sie haben für alle gearbeitet, die sie damals – technisch noch sehr rudimentär ausgestattet - erreicht haben. Vor allem seien es westliche Zeitungen gewesen, die sich für ihre Arbeit interessierten.

 

Rückblickend sieht Jehnichen die Wiedervereinigung Deutschlands als Chance Gutes aus beiden Ländern zu übernehmen. Auch er habe seine Stasi-Akten einsehen wollen, doch wurde über ihn nichts gefunden. „Vielleicht war ich tatsächlich zu uninteressant“ kommentierte Jehnichen. Noch heute hätten West-Freunde große Vorbehalte gegenüber Leipzig, doch Martin Jehnichen genieße die Lebensqualität und den Platz für Kultur und Ideen in Leipzig.

 

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AUS DEM GÄSTEBUCH

 

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Mehrere tausend Menschen besuchen monatlich die Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ mit dem Museum im Stasi-Bunker. Manche leben in Leipzig und kommen – häufig mit Gästen – immer wieder in die Ausstellung. Andere kommen von weit her zu Besuch in die Stadt und wollen hier sehen, wo und wie vormals das berüchtigte Ministerium für Staatssicherheit arbeitete.

 

Dauerausstellung

 

Wie können Menschen diesen kranken Staat zurück wünschen? Die müssen selber krank sein... und blind, dumm und taub! Danke für dieses Museum „wider das Vergessen“

P.S. Sind von der Stadt Leipzig sehr begeistert (5 Besucherinnen aus München)

 

Die Klasse 9a aus der Lorenz-Kellner-Schule Heiligenstadt möchten sich für den Erhalt der Informationen zur Staatssicherheit bedanken (Schulklasse am 22.12.2010)

 

Ich bin beeindruckt und wütend mit welchen Methoden Angst gemacht wurde. Wie naiv war ich damals, als wir uns von Kirchgemeinde zu Kirchgemeinde besuchten und wie naiv denken immer noch so viele um mich herum über das Leben in der DDR. (Besucherin am 27.12.2010)

 

Vielen Dank für Ihre wichtige Arbeit gegen das Vergessen. (Besucher am 30.12.2010)

 

Warum wir die DDR von vielen „Ossis“ schöngeredet? Es war doch schlimm, was hier passiert ist und sollte ebenso wenig vergessen werden wie das Naziregime! (Besucher am 02.01.2011)

 

Sonderausstellung

 

Gute Idee diese sehr aufschlussreiche Ausstellung in diesen Räumlichkeiten zu zeigen

(Besucher aus Münster am 01.12.2010)

 

Demokratie, Freiheit und Einheit, so soll es bleiben - dafür gibt er diese Ausstellung

Unfassbare Zuständen mutig entgegen treten – hoffen wir alle er hat sich gelohnt und sie bleiben uns erhalten die Demokratie, Freiheit und Einheit (Besucher vom Niederrhein 2010)

 

Danke und Respekt an all Diejenigen, die sich für die Freiheit eingesetzt haben

Danke auch an die Verantwortlichen, die Ausstellungen wie diese durchführen.

In Respekt vor dem Vergangenen und Mahnung für das kommende (Besucher am 30.12.2010)

 

Gänsehaut! Danke für diese Ausstellung! Die DDR war ein entsetzlicher Unrechtsstaat. WARUM diese ständige Ostalgie? Ohne Aufarbeitung der Vergangenheit ist die Zukunft nicht möglich. (Besucherin am 04.01.2011)

 


 



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Träger der Gedenkstätte
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